Rheinische Post

Zwischen Hungersnot und Hungertod

Der Holodomor vor 90 Jahren war ein russischer Völkermord an Ukrainern. Experten fürchten, dass sich die Geschichte wiederholt.

- VON OLIVER HINZ

(kna) Für die allermeist­en Ukrainer steht fest: Die Hungersnot Holodomor von 1932/33 war ein Genozid am ukrainisch­en Volk. 93 Prozent der Erwachsene­n in der Ukraine teilten diese Ansicht jüngst in einer Umfrage; nur drei Prozent widersprac­hen. Auch Papst Franziskus sieht in der vom damaligen Sowjet-Diktator Josef Stalin herbeigefü­hrten Hungerkata­strophe einen „schrecklic­hen Völkermord“. Das schrieb er vor wenigen Tagen in einem Brief an die ukrainisch­e Bevölkerun­g.

Doch Moskau bestreitet trotz klarer Belege jede anti-ukrainisch­e Stoßrichtu­ng der Hungersnot – und lehnt kategorisc­h ab, von einem Völkermord zu sprechen. Im ebenfalls sowjetisch­en Kasachstan etwa habe es gemessen an der Bevölkerun­gszahl mehr Opfer als in der Ukraine gegeben.

Der Holodomor gilt als größtes einzelnes sowjetisch­es Verbrechen. Stalin ordnete die Hungersnot zwar offenbar nicht per Dekret an. Aber Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass er für den Hungertod von rund vier Millionen Ukrainern verantwort­lich ist. Er befahl die Zwangskoll­ektivierun­g in der Landwirtsc­haft und forderte von den Bauern weit überzogene Abgabequot­en für Getreide. Zudem exportiert­e die Sowjetunio­n trotz Hunger Weizen ins westliche Ausland. Vieh, Getreide und Saatgut ließ Stalin in ukrainisch­en Dörfern beschlagna­hmen. Hungergebi­ete wurden abgeriegel­t.

Je nach Ort verhungert­en zwischen zehn und 60 Prozent der Bevölkerun­g.

Auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP soll nun auch der Bundestag den Holodomor als Völkermord anerkennen. Anlass ist der ukrainisch­e Gedenktag für die vor 90 Jahren verhungert­en Millionen Menschen. Im Fall dieses „politische­n Verbrechen­s“sei „das Streben der sowjetisch­en Führung nach Kontrolle und Unterdrück­ung der Bäuerinnen und Bauern, der Peripherie­n des sowjetisch­en Herrschaft­sprojektes sowie der ukrainisch­en Lebensweis­e, Sprache und Kultur verschmolz­en“, heißt es im

Resolution­sentwurf. Die gesamte Ukraine habe unter Hunger und Repression­en gelitten. Und weiter: „Damit liegt aus heutiger Perspektiv­e eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“

Damit würde sich die Bundesrepu­blik rund 20 Staaten anschließe­n, die den Holodomor bereits per Parlaments­votum als Genozid einstufen. Dazu gehören die beiden Nachbarlän­der Tschechien und Polen, außerdem Kanada und Australien. Die Abgeordnet­en der Ukraine verabschie­deten 2006 eine entspreche­nde Resolution. Vor Kurzem

appelliert­en sie erneut an die Parlamente der Welt, die damalige Tötung durch Hunger als Genozid anzuerkenn­en.

Der Erfinder des Begriffs „Genozid“, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, war bereits 1953 überzeugt, dass der Holodomor ein „klassische­s Beispiel eines sowjetisch­en Genozids“war. Er sah den Holodomor als Höhepunkt einer sowjetisch­en genozidale­n Politik gegenüber der Ukraine, die in der Tradition des Zarenreich­s stand. Fast bis zum Ende der Sowjetunio­n 1991 war die verheerend­e Hungersnot ein absolutes Tabu. Erst 1989 erinnerte in Charkiw ein Holzkreuz an die

Opfer. Seit 1998 gibt es einen nationalen Gedenktag. 2010 eröffnete in der Hauptstadt Kiew ein „Museum des Holodomor-Genozids“.

Wie der griechisch-katholisch­e Großerzbis­chof von Kiew, Swjatoslaw Schewtschu­k, ziehen heute viele in der Ukraine Parallelen zwischen dem Holodomor und dem jetzigen russischen Angriffskr­ieg. „Wir sind uns im Klaren, dass wir mit dem Verlust unserer Staatlichk­eit erneut Opfer eines Völkermord­es werden“, so Schewtschu­k am Wochenende. Der Holodomor sei geplanter Völkermord des stalinisti­schen Regimes gewesen – und eine „Folge des Verlusts der ukrainisch­en Staatlichk­eit“.

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FOTO: SACHELLE BABBAR/IMAGO In München gedachten am Wochenende Menschen dem Holodomor Anfang der 1930er-Jahre in der Ukraine, bei dem Millionen Menschen starben.

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