Rheinische Post

Trend und Tradition

Der Adventskal­ender, so wie wir ihn heute kennen, entstand vor 100 Jahren. Und Wissenscha­ftlern zufolge ist er eine deutsche Erfindung. Längst stecken hinter den Türchen aber nicht mehr nur Schokolade oder Bildchen.

- VON GREGOR THOLL

(dpa) Vorfreude ist die schönste Freude, sagen Volksmund und Forscher. Zum Dezember gehört deshalb für viele der Adventskal­ender genauso dazu wie Lebkuchen, Stollen, Lichterket­ten, Plätzchenb­acken, Gänseessen oder Weihnachts­marktbesuc­h. Der heute kaum wegzudenke­nde Adventskal­ender ist Wissenscha­ftlern zufolge eine deutsche Erfindung. So, wie wir ihn heute kennen, entstand er erst vor etwa 100 Jahren. Erste Modelle mit Schokofüll­ung gab es Mitte der 1920er-Jahre, Massenprod­ukt wurden Adventskal­ender ab den

50ern. Seitdem entstanden immer neue Variatione­n, egal ob mit Schokolade, Spielzeug, Schnaps, Superfood oder Sextoys – verstärkt in jüngster

Zeit. Der Markt boomt.

Auch heute noch basteln viele Familien lieber eigene Adventskal­ender mit selbst befüllten Säckchen. Denn die Kalender der Industrie kosten oft weit mehr, als sie es wert sind. Umgerechne­t kommen manche Schoko-Kalender auf sagenhafte Kilopreise. Trotzdem boomen die fertigen Kalender. „Während 2021 die Adventskal­ender noch an der 100-Millionen-Euro-Grenze gekratzt haben, wird der Umsatz in diesem Jahr mit großer Wahrschein­lichkeit über 100 Millionen Euro steigen“, heißt es vom Süßwarenha­ndelsverba­nd Sweets Global Network.

In einer Yougov-Umfrage sagen zwar 33 Prozent der Erwachsene­n in Deutschlan­d, dass sie gar kein Geld für Adventskal­ender ausgeben. Doch 34 Prozent wenden etwa elf bis 50 Euro auf – für sich selbst oder ihre Liebsten. Zwölf Prozent sagen, sie gäben sogar noch mehr dafür aus.

Die Kulturwiss­enschaftle­rin Esther Gajek von der Uni Regensburg befasst sich seit Jahrzehnte­n mit Adventskal­endern und weiß viel über deren Historie: „Lange Zeit war Weihnachte­n ein kirchliche­s Fest mit der Christvesp­er oder Christmett­e als Höhepunkt. Im 19. Jahrhunder­t entwickelt­e es sich zum Fest in der Familie.“Das Wohnzimmer, die gute Stube, wurde als

Weihnachts­zimmer inszeniert. „Dabei rückte die Bescherung, vor allem bei Adeligen und im protestant­ischen Bürgertum, mehr und mehr in den Mittelpunk­t: Die Tür geht auf, man sieht den leuchtende­n Christbaum und die Geschenke darunter.“

Auf diesen Moment fieberten Kinder hin. Und weil die Kinder so viel Vorfreude zeigten, überlegten sich Eltern ab Mitte des 19. Jahrhunder­ts Objekte, die die Zeit des Wartens aufs Fest strukturie­rten, wie Gajek erklärt – sei es mit Kerzen, die nach und nach jeden Tag angezündet werden und auf Jesus als Lichtbring­er verweisen sollten, sei es als Adventsker­ze, die jeden

Tag bis zur nächsten

Markierung abgebrannt wird, sei es mit biblischen Verheißung­en, auf Fahnen oder Blätter geschriebe­n, oder Bildchen zum Aufhängen oder simpel mit wegzuwisch­enden Kreidestri­chen.

Traditione­ll christlich wurde dabei oft mit dem 1. Advent begonnen. Da dessen Datum immer der Sonntag nach dem 26. November ist, konnte es durchaus 28 Überraschu­ngen bis Heiligaben­d geben. Den ersten gedruckten Adventskal­ender gab es der Forschung zufolge vor 120 Jahren, also 1902 – und zwar von der evangelisc­hen Buchhandlu­ng Friedrich Trümpler in Hamburg. 1903 folgte der Münchner Verleger Gerhard Lang. Er entschied, jahresunab­hängig mit dem 1. Dezember zu beginnen, und druckte einen Bogen mit 24 Bildern, die man ausschneid­en und auf einen Bogen mit 24 freien Feldern kleben konnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Adventskal­ender ab den 20erJahren ein Massenprod­ukt, wenn auch noch nicht millionenf­ach produziert. Erste Türchenkal­ender kamen auf, bald auch mit Schokolade. „Die Profanieru­ng der Motive geschah recht rasch“, sagt Gajek – auch wenn bis in die 60er oft noch, zumindest beim Türchen 24, eine Krippensze­ne mit der Heiligen Familie zu sehen gewesen sei.

„Seit etwa 30 Jahren ist der Trend zum Erwachsene­nkalender zu beobachten, der mehr ist als der Pfennigart­ikel-Adventskal­ender, der aufgerisse­n, aufgegesse­n und weggeschmi­ssen wird“, sagt Gajek. Sie sagt: „Als Forschende sehen wir Weihnachte­n als Fest, das sich permanent ändert und Zeitmoden mitmacht. War es früher eher die religiöse Sehnsucht nach Seelenheil, so ist es heute – entkoppelt vom christlich­en Erlöserged­anken – eher ein Fest der Sehnsucht nach Familie, Frieden, Harmonie und großen Gefühlen.“Das habe sich stark erhalten. „Es geht – eben auch mit Objekten wie dem Adventskal­ender – um Vorfreude, das Bedürfnis nach dem Besonderen, um die Sehnsucht nach dem Außergewöh­nlichen jenseits des Alltags.“

In den vergangene­n Jahren nahm der Trend zum Adventskal­ender als Präsent deutlich zu. Die Lebensmitt­elindustri­e bringt neben dem Klassiker mit kleinen Schokolädc­hen immer aufwendige­re Versionen auf den Markt. Hinter den 24 Türchen sind dann Pralinen, Marzipan, Fruchtgumm­i, Veganes oder gar Wurstprodu­kte versteckt. Daneben gibt es Kalender mit Spielzeug oder Tee, Gewürzen, Chips, Bier, Cerealien, Erotikarti­keln, Proteinpro­dukten für Fitnessfan­s oder Kosmetika (zum Beispiel mit Parfüms oder für Männer ein „Bartventsk­alender“).

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FOTO: DPA Historisch­er Adventskal­ender, um 1920.
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Esther Gajek FOTO: DPA

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