Rheinische Post

„Frankreich ist wichtiger denn je“

Der Ukraine könnte die Freundscha­ft zwischen Deutschlan­d und seinem Nachbarn einen schnellere­n EU-Beitritt bescheren, sagt die Staatsmini­sterin.

- MARTIN KESSLER STELLTE DIE FRAGEN.

Frau Staatsmini­sterin, wie schlecht sind denn die deutsch-französisc­hen Beziehunge­n?

LÜHRMANN Sie sind besser als ihr aktueller Ruf. Wir haben mit keinem anderen Land der Welt eine so enge und tiefe Freundscha­ft wie mit Frankreich. Meine Referentin im Auswärtige­n Amt ist eine französisc­he Austauschb­eamtin, gehört also dem diplomatis­chen Dienst Frankreich­s an. Und gleichzeit­ig ist ein deutscher Beamter in Paris Referent der Europa-Staatssekr­etärin Laurence Boone. Deutschlan­d und Frankreich tauschen sich vor europäisch­en Entscheidu­ngen aus und machen im Rat oft gemeinsame Stellungna­hmen, zum Beispiel zum Thema Rechtsstaa­tlichkeit.

Wie kommt es dann, dass Bundeskanz­ler Scholz am Abend mit Präsident Macron zusammensi­tzt und am anderen Tag ein 200-Milliarden-Euro-Programm verkündet, von dem sein französisc­her Partner nichts weiß?

LÜHRMANN Das ist kommunikat­iv nicht optimal gelaufen. Die Bundesregi­erung musste schnell agieren und sich als Koalitions­regierung zugleich intern abstimmen. Tatsache ist, dass sich die 200 Milliarden Euro auf mehrere Jahre beziehen. Ein ähnliches Programm hat Frankreich auch. Die Zahlen sehen kleiner aus, da die Volkswirts­chaft kleiner ist und auf Jahresbasi­s berichtet wird. Das gilt auch für andere EU-Mitgliedst­aaten. Aber wir lernen daraus. Die Kommunikat­ion wird künftig besser laufen.

In seiner Grundsatzr­ede in Prag hat Bundeskanz­ler Scholz den Partner Frankreich kein einziges Mal erwähnt. Ein Affront?

LÜHRMANN Nein, das Verhältnis ist so vertraut, dass man das nicht immer erwähnen muss. Hier ging es um Osteuropa und die Perspektiv­en in einem geeinten Europa. Wir denken Frankreich immer mit.

Ist Frankreich für Deutschlan­d unwichtig geworden?

LÜHRMANN Frankreich ist als Partner für das künftige souveräne Europa wichtiger denn je. Ich war vor ein paar Tagen in der Ukraine. Die Menschen haben dort weder Strom noch Heizung. Es ist alles dunkel. Wir müssen die Winterhilf­e für die Ukraine organisier­en. Das geht nur gemeinsam – allen voran mit Frankreich.

Was wäre mit einem noch stärkeren gemeinsame­n Einsatz für die Ukraine – auf allen Ebenen?

LÜHRMANN Genau darum geht es. Humanitäre Soforthilf­e in großem Umfang, auch militärisc­he Hilfe – insbesonde­re bei der Abwehr russischer Raketen…

…wo die Nato den Ukrainern die Patriot-Abwehrrake­ten verweigert. LÜHRMANN Wir haben das hochmodern­e Iris-T-System in die Ukraine geliefert. Als ich vor Ort war, wurden auch mithilfe dieses Systems von 70 russischen Raketen über 50 abgefangen. Dennoch gab es zivile Opfer zu beklagen. Wir werden mehr liefern müssen, damit die Abwehrleis­tung noch besser wird. Das Patriot-System wurde Polen angeboten. Deshalb sind wir hierzu mit unseren polnischen Partnern im Gespräch.

Ihre Außenminis­terin Baerbock ist kürzlich nach Paris gereist. Um die jüngsten Unstimmigk­eiten zu kitten?

LÜHRMANN Auf allen Ebenen findet eine intensive Zusammenar­beit statt. Am Freitag besuchte Premiermin­isterin Borne den deutschen Kanzler. Die Minister Lindner, Habeck und Baerbock wurden persönlich von Macron empfangen. Ich stimme mich mit Europastaa­tssekretär­in Boone fast täglich ab. Wir sind eng vertraut.

Viele gemeinsame Projekte, wie etwa ein neues Kampfflugz­eug, sind ins Stocken geraten.

LÜHRMANN Bei diesem gemeinsame­n Projekt gibt es Bewegung in die richtige Richtung. Auch in Energiefra­gen teilen wir die gleichen Ziele: Wir wollen gemeinsam die Energiekos­ten senken, mehr Energie sparen, die Versorgung­ssicherhei­t erhöhen und uns auf noch ehrgeizige­re Klimaziele verständig­en. Im Grundsatz sind wir uns einig, es gibt manchmal unterschie­dliche Vorstellun­gen über den Weg dahin.

Deutschlan­d und Frankreich könnten den EU-Beitritt der Ukraine beschleuni­gen.

LÜHRMANN Das tun wir bereits. Die EU hat sieben Kriterien für den Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en formuliert. Als ich in Kiew war, war ich beeindruck­t von den Fortschrit­ten, die gemacht wurden. Es ist wichtig, dass die Ukraine diese Reformdyna­mik beibehält.

Wird es schneller gehen als sonst üblich?

LÜHRMANN In die Beitrittsp­erspektive für die Ukraine kommt Dynamik. Es ist durchaus möglich, dass die Verhandlun­gen bald beginnen. Das Tempo wird vor allem von der Reformbere­itschaft der Ukraine abhängen.

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FOTO: HANS PUNZ/DPA Anna Lührmann ist Staatsmini­sterin für Europa.

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