Der Ton der Revolution
Ein altes Liebeslied kehrt als Hymne auf die iranischen Frauen zurück. Wie werden frühere Hits zum Soundtrack des Protests?
Politische Gegebenheiten und historische Ereignisse in Liedern zu kommentieren und sich selbst dabei zu positionieren, prägt die Musikgeschichte nicht erst, seit es Pop, Rock und Rap gibt. Schon römische Soldaten stimmten nicht nur Siegeshymnen an, sondern auch Spottlieder auf den Triumphator. Gemeinsamer Gesang vermag die Identität einer Gruppe zu unterstreichen, ihrem Protest gewaltigen Schub verleihen. Singen schweißt nicht nur zusammen, sondern nimmt auch die Angst. Die Marseillaise, die Internationale waren Kampflieder für eine bessere Welt, die dann nicht unbedingt besser wurde. Nicht immer geht es musikalisch so martialisch zu. „Die Gedanken sind frei“etwa ist so ein leiser kritischer Ton gegen die unterdrückte Meinungsfreiheit im 19. Jahrhundert. Nun hat es ein beinahe zehn Jahre altes Liebeslied zurück in die Charts geschafft, weil aus ihm ein Protestsong geworden ist.
„Wenn jemand dir wehtut, will ich kämpfen, aber meine Hände sind zu oft gebrochen worden. Deshalb nutze ich meine Stimme, ich werde so verdammt unverschämt sein, Worte werden immer gewinnen, auch wenn ich weiß, dass ich verlieren werde.“Man schrieb das Jahr 2013, als sich diese traurig-trotzigen Verse im englischen Original, transportiert von einer eingängigen Melodie und gesungen von Tom Odell, in den Ohren von Millionen Musikfans festsetzten und dem britischen Sänger zum internationalen Durchbruch verhalfen. „Another Love“erreichte damals Platz elf der deutschen Charts, jetzt ist der Hit unter den Top Ten. Das melancholische Liebeslied erlebt seine Wiedergeburt als Hymne auf die Frauen im Iran, die ihre Stimme gegen das Regime der Mullahs erheben.
„And if somebody hurts you, I wanna fight / But my hands been broken one too many times / So I‘ll use my voice, I‘ll be so fucking rude / Words they always win, but I know I‘ll lose.“Es sind diese Worte, die bei den Unterstützern der Proteste offenbar einen Nerv getroffen haben. Deutsche und iranische
Frauen haben sie gemeinsam auf der Domplatte in Köln gesungen, Exiliranerinnen und -iraner im Zentrum Berlins, während sie sich die Haare abschnitten. Aufnahmen tanzender Frauen, die in der islamischen Republik am Persischen Golf ihre Kopftücher verbrennen, Bilder von Gefangenen, Gefolterten, Getöteten wurden mit Odells Ode unterlegt. Solche Videos kursieren zuhauf in den sozialen Medien, viele davon auf Tiktok. Pathos ist eben nicht nur der Treibstoff für Liebeslyrik, sondern auch des Protests.
Im Iran bieten seit mehr als zwei Monaten vor allem Frauen den Machthabern die Stirn. Auslöser war der Tod der iranischen Kurdin Jina
Mahsa Amini am 16. September. Die junge Frau starb in Polizeigewahrsam, nachdem sie wegen eines angeblich nicht ordnungsgemäß getragenen Kopftuchs verhaftet worden war. Die Sittenwächter stehen im Verdacht, die 21-Jährige misshandelt zu haben. Die Kritik fordert einen hohen Preis: Nach Einschätzungen von Menschenrechtlern wurden seither mindestens 450 Protestierende getötet, rund 18.000 Menschen verhaftet.
Wird ein Song häufig gestreamt, heruntergeladen oder als CD erworben, landet er in den Charts. Genau das passiert gerade mit „Another Love“. Ganz unschuldig an dem Revival ist sein Schöpfer nicht. Tom
Odell setzte sich zu „Another Love“bereits im März in einem Bahnhof in Rumänien ans Klavier und spielte für Flüchtlinge aus der Ukraine. Bei einem Konzert im September in Hannover widmete er das Lied den Frauen im Iran. Im Oktober sang es die Komikerin Carolin Kebekus in ihrer Fernsehshow, „um den Stimmen der Unterdrückten Gehör zu verschaffen“.
Die Unterdrückten im Land selbst stimmen Odells Hit höchstens vereinzelt an. Stattdessen avancierte die Ballade „Baraye“zur Protesthymne Nummer eins im Iran. Der Sänger Scherwin Hadschipur hat sie aus lauter Tweets komponiert, in denen Protestierende ihrer Wut und Trauer Ausdruck verliehen. Der Künstler musste sich – offenbar nach massiver Einschüchterung – dafür öffentlich entschuldigen. Sein Lied aber blieb.
Protest kann sogar aus Kirchenliedern erwachsen. Den Ursprung der Melodie von „We shall overcome“haben Musikwissenschaftler im lateinischen Kirchenlied „O Sanctissma“von Michael Praetorius (1571 bis 1621) verortet. In Deutschland entwickelte sich daraus das Weihnachtslied „Oh, du fröhliche“, während in Amerika die von Einwanderern mitgebrachte Musik mit dem Text eines alten Gospelsongs verschmolz. Beide Lieder weisen in der ersten Strophenhälfte eine verblüffende Ähnlichkeit in der Tonfolge auf. Als Ausdruck des Protests erklang „We shall overcome“erstmals 1945, als in South Carolina die vorwiegend schwarzen Arbeiterinnen die American Tobacco Company bestreikten.
In viel größerer Zahl aber hat es Protestsongs gegeben, die dafür geschrieben wurden, Missstände zu benennen und der Revolution auf die Sprünge zu helfen. Die Lieder der Dylans, Lennons, Donovans, Biermanns und wie sie alle heißen, waren toll. Sie sind in ihrer Direktheit immer auch ein wenig belehrend, und teilweise haben sie ihren Zweck in der Zeit erfüllt, für die sie geschaffen wurden.
Ältere Lieder, in einen aktuellen Kontext gestellt, entfalten manchmal eine magische Wirkung, weil sich ihre Botschaft nur dem erschließt, der sich darauf einlässt. Die düsteren Prophezeiungen aus „Everybody Knows“oder „First We Take Manhattan“von Leonard Cohen wurden Jahrzehnte später mit den Anschlägen aufs World Trade Center, der Flüchtlingskrise und der Pandemie in Verbindung gebracht. Die wolkige Lyrik klingt auf einmal wie eine Mahnung: Wir hätten es besser wissen sollen. Dass das Schiff leckt. Dass der Kapitän gelogen hat.
Ein wenig so verhält es sich auch mit Tom Odells „Another Love“, das plötzlich vom klassischen Liebeslied zum modernen Protestsong geworden ist. „Worte werden immer gewinnen, auch wenn ich weiß, dass ich verlieren werde.“