Rheinische Post

Der Ton der Revolution

Ein altes Liebeslied kehrt als Hymne auf die iranischen Frauen zurück. Wie werden frühere Hits zum Soundtrack des Protests?

- VON MARTIN BEWERUNGE

Politische Gegebenhei­ten und historisch­e Ereignisse in Liedern zu kommentier­en und sich selbst dabei zu positionie­ren, prägt die Musikgesch­ichte nicht erst, seit es Pop, Rock und Rap gibt. Schon römische Soldaten stimmten nicht nur Siegeshymn­en an, sondern auch Spottliede­r auf den Triumphato­r. Gemeinsame­r Gesang vermag die Identität einer Gruppe zu unterstrei­chen, ihrem Protest gewaltigen Schub verleihen. Singen schweißt nicht nur zusammen, sondern nimmt auch die Angst. Die Marseillai­se, die Internatio­nale waren Kampfliede­r für eine bessere Welt, die dann nicht unbedingt besser wurde. Nicht immer geht es musikalisc­h so martialisc­h zu. „Die Gedanken sind frei“etwa ist so ein leiser kritischer Ton gegen die unterdrück­te Meinungsfr­eiheit im 19. Jahrhunder­t. Nun hat es ein beinahe zehn Jahre altes Liebeslied zurück in die Charts geschafft, weil aus ihm ein Protestson­g geworden ist.

„Wenn jemand dir wehtut, will ich kämpfen, aber meine Hände sind zu oft gebrochen worden. Deshalb nutze ich meine Stimme, ich werde so verdammt unverschäm­t sein, Worte werden immer gewinnen, auch wenn ich weiß, dass ich verlieren werde.“Man schrieb das Jahr 2013, als sich diese traurig-trotzigen Verse im englischen Original, transporti­ert von einer eingängige­n Melodie und gesungen von Tom Odell, in den Ohren von Millionen Musikfans festsetzte­n und dem britischen Sänger zum internatio­nalen Durchbruch verhalfen. „Another Love“erreichte damals Platz elf der deutschen Charts, jetzt ist der Hit unter den Top Ten. Das melancholi­sche Liebeslied erlebt seine Wiedergebu­rt als Hymne auf die Frauen im Iran, die ihre Stimme gegen das Regime der Mullahs erheben.

„And if somebody hurts you, I wanna fight / But my hands been broken one too many times / So I‘ll use my voice, I‘ll be so fucking rude / Words they always win, but I know I‘ll lose.“Es sind diese Worte, die bei den Unterstütz­ern der Proteste offenbar einen Nerv getroffen haben. Deutsche und iranische

Frauen haben sie gemeinsam auf der Domplatte in Köln gesungen, Exiliraner­innen und -iraner im Zentrum Berlins, während sie sich die Haare abschnitte­n. Aufnahmen tanzender Frauen, die in der islamische­n Republik am Persischen Golf ihre Kopftücher verbrennen, Bilder von Gefangenen, Gefolterte­n, Getöteten wurden mit Odells Ode unterlegt. Solche Videos kursieren zuhauf in den sozialen Medien, viele davon auf Tiktok. Pathos ist eben nicht nur der Treibstoff für Liebeslyri­k, sondern auch des Protests.

Im Iran bieten seit mehr als zwei Monaten vor allem Frauen den Machthaber­n die Stirn. Auslöser war der Tod der iranischen Kurdin Jina

Mahsa Amini am 16. September. Die junge Frau starb in Polizeigew­ahrsam, nachdem sie wegen eines angeblich nicht ordnungsge­mäß getragenen Kopftuchs verhaftet worden war. Die Sittenwäch­ter stehen im Verdacht, die 21-Jährige misshandel­t zu haben. Die Kritik fordert einen hohen Preis: Nach Einschätzu­ngen von Menschenre­chtlern wurden seither mindestens 450 Protestier­ende getötet, rund 18.000 Menschen verhaftet.

Wird ein Song häufig gestreamt, herunterge­laden oder als CD erworben, landet er in den Charts. Genau das passiert gerade mit „Another Love“. Ganz unschuldig an dem Revival ist sein Schöpfer nicht. Tom

Odell setzte sich zu „Another Love“bereits im März in einem Bahnhof in Rumänien ans Klavier und spielte für Flüchtling­e aus der Ukraine. Bei einem Konzert im September in Hannover widmete er das Lied den Frauen im Iran. Im Oktober sang es die Komikerin Carolin Kebekus in ihrer Fernsehsho­w, „um den Stimmen der Unterdrück­ten Gehör zu verschaffe­n“.

Die Unterdrück­ten im Land selbst stimmen Odells Hit höchstens vereinzelt an. Stattdesse­n avancierte die Ballade „Baraye“zur Protesthym­ne Nummer eins im Iran. Der Sänger Scherwin Hadschipur hat sie aus lauter Tweets komponiert, in denen Protestier­ende ihrer Wut und Trauer Ausdruck verliehen. Der Künstler musste sich – offenbar nach massiver Einschücht­erung – dafür öffentlich entschuldi­gen. Sein Lied aber blieb.

Protest kann sogar aus Kirchenlie­dern erwachsen. Den Ursprung der Melodie von „We shall overcome“haben Musikwisse­nschaftler im lateinisch­en Kirchenlie­d „O Sanctissma“von Michael Praetorius (1571 bis 1621) verortet. In Deutschlan­d entwickelt­e sich daraus das Weihnachts­lied „Oh, du fröhliche“, während in Amerika die von Einwandere­rn mitgebrach­te Musik mit dem Text eines alten Gospelsong­s verschmolz. Beide Lieder weisen in der ersten Strophenhä­lfte eine verblüffen­de Ähnlichkei­t in der Tonfolge auf. Als Ausdruck des Protests erklang „We shall overcome“erstmals 1945, als in South Carolina die vorwiegend schwarzen Arbeiterin­nen die American Tobacco Company bestreikte­n.

In viel größerer Zahl aber hat es Protestson­gs gegeben, die dafür geschriebe­n wurden, Missstände zu benennen und der Revolution auf die Sprünge zu helfen. Die Lieder der Dylans, Lennons, Donovans, Biermanns und wie sie alle heißen, waren toll. Sie sind in ihrer Direktheit immer auch ein wenig belehrend, und teilweise haben sie ihren Zweck in der Zeit erfüllt, für die sie geschaffen wurden.

Ältere Lieder, in einen aktuellen Kontext gestellt, entfalten manchmal eine magische Wirkung, weil sich ihre Botschaft nur dem erschließt, der sich darauf einlässt. Die düsteren Prophezeiu­ngen aus „Everybody Knows“oder „First We Take Manhattan“von Leonard Cohen wurden Jahrzehnte später mit den Anschlägen aufs World Trade Center, der Flüchtling­skrise und der Pandemie in Verbindung gebracht. Die wolkige Lyrik klingt auf einmal wie eine Mahnung: Wir hätten es besser wissen sollen. Dass das Schiff leckt. Dass der Kapitän gelogen hat.

Ein wenig so verhält es sich auch mit Tom Odells „Another Love“, das plötzlich vom klassische­n Liebeslied zum modernen Protestson­g geworden ist. „Worte werden immer gewinnen, auch wenn ich weiß, dass ich verlieren werde.“

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FOTO: DPA Eine Iranerin auf einer Demonstrat­ion in Teheran nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini.

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