Ein fantastisches Wimmelbild
Den Auftakt der neuen Literaturreihe „Im Gespräch“bildete eine gut aufgelegte Ulla Hahn mit ihrem neuen Roman.
Gute Literatur hat in Düsseldorf eine neue Adresse: die Kirchfeldstraße 60. Die Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland legt dort die neue Reihe „Im Gespräch“auf. Zur Premiere war die Lyrikerin Ulla Hahn zu Gast im ausverkauften Casino des Neubaus. Gut gelaunt plauderte die im Sauerland geborene und in Monheim aufgewachsene Schriftstellerin über ihr neues Buch „Tage in Vitopia“, in dem sie ihrer Fabulierkunst freien Lauf lässt.
Die 78-Jährige gilt als eine der wichtigsten Lyrikerinnen, aber auch Erzählerinnen der Gegenwart hierzulande. Nachdem sie 2017 mit „Wir werden erwartet“ihren erfolgreichen autobiografischen Romanzyklus abgeschlossen hatte, wollte Hahn „endlich etwas Neues machen, das Spaß macht“, wie sie im Gespräch mit Michael Serrer, Leiter des Literaturbüros NRW, sagte. „Ich weiß alles über Hilla, ich muss nichts mehr über sie erzählen“, bilanzierte die Sauerländerin in Anspielung auf die Protagonistin ihrer Romane.
Auf Nummer sicher gehen und eine Fortsetzung der Reihe zu veröffentlichen, könne jeder. Aber mal etwas Unerwartetes zu wagen, wie ein Eichhörnchen als Protagonisten für eine Utopie zu wählen, das sei genau das gewesen, was sie gereizt habe. Ein wenig autobiografisch sei „Tage in Vitopia“aber schon. So hat Eichhörnchen Wendelin durchaus reale Vorbilder, die sich auf Hahns Hamburger Balkon herumtreiben: „Im Buch ist es eine Terrasse, das klingt einfach schöner.“
Hahn beschreibt „Tage in Vitopia“als „fantastisches Wimmelbild“; tatsächlich ist es eine wilde Mischung aus Tierfabel, Utopie und Fantasy mit verschiedenen Zeitebenen und historischen Figuren, die einander nie getroffen haben. Es geht um Klimawandel und Umweltzerstörung, um die grundlegende Beziehung zwischen Mensch, Flora und Fauna, die in Hahns Geschichte über einen Translator miteinander kommunizieren können. Gemeinsam besetzen sie den Hambacher Forst und diskutieren auf einem Kongress die Zukunft von Mutter Erde.
Ulla Hahn erzählt dies alles mit einer Leichtigkeit und dringt dabei trotzdem zu existenziellen Fragen vor, wie der nach der Notwendigkeit von Tierversuchen. Zwischen den Buchdeckeln habe sie so viele Informationen gepackt, dass der Leser sich überfordert fühle, bremste Michael Scherrer die übersprudelnde Erzählkunst der Schriftstellerin. Die konterte, man könne es wie sie mit Thomas Manns „Zauberberg“halten und einfach ein paar Seiten überschlagen. „Ich glaube, ich habe seinen Roman noch nie ganz gelesen“, gab die Wahl-Hamburgerin
zu, um noch eins draufzusetzen: „Ich mochte nie diese Anmerkungen in wissenschaftlichen Arbeiten, aber in diesem Buch habe ich mir den Spaß erlaubt, reichlich davon einzufügen.“Einfach so, als Anregung für ihre Leser mit zusätzlichen Informationen, denn die – das wird im letzten Drittel ihres Romans deutlich – ist die Währung der Zukunft, das verbindende Element zwischen realer und digitaler Welt.
Es ist gewissermaßen der Kitt, der alles zusammenhält. Denn neben sprechenden Tieren und Pflanzen lässt Hahn auch an Avatare erinnernde Wesen den Kongress zur Rettung der Erde besuchen. Künstliche Intelligenz, die längst ein Eigenleben entwickelt hat und den Menschen vorwirft, ihren wahren Nutzen nicht zu erkennen. Diese digitalen Wesen warnen, dass es wenig Sinn mache, Ängste vor den Folgen des Klimawandels zu schüren. Vielmehr sei es wichtig, Mut zu machen und Faktenwissen mit Gefühl zu kombinieren.
So mitreißend die Lesung einschließlich Hahns Gesangseinlagen waren, so sprachlos blieb am Ende das Publikum, das eigentlich aufgerufen war, ins Gespräch mit der Autorin zu kommen. Das Gehörte musste sich erst einmal setzen, überdacht werden oder wie Hahn es ausdrückte: „Manchmal muss man Texte liegen lassen, um ihnen eine zweite Chance zu geben“.
Und zum Abschluss des kurzweiligen Abends verriet sie noch, dass ihr die Idee gefalle, noch tiefer in die Fantasy-Welt einzutauchen, „um sie nach allen Seiten auszudehnen und noch darüber hinaus zu gehen“.