Rheinische Post

Ein fantastisc­hes Wimmelbild

Den Auftakt der neuen Literaturr­eihe „Im Gespräch“bildete eine gut aufgelegte Ulla Hahn mit ihrem neuen Roman.

- VON CLAUDIA HÖTZENDORF­ER

Gute Literatur hat in Düsseldorf eine neue Adresse: die Kirchfelds­traße 60. Die Sparkassen-Kulturstif­tung Rheinland legt dort die neue Reihe „Im Gespräch“auf. Zur Premiere war die Lyrikerin Ulla Hahn zu Gast im ausverkauf­ten Casino des Neubaus. Gut gelaunt plauderte die im Sauerland geborene und in Monheim aufgewachs­ene Schriftste­llerin über ihr neues Buch „Tage in Vitopia“, in dem sie ihrer Fabulierku­nst freien Lauf lässt.

Die 78-Jährige gilt als eine der wichtigste­n Lyrikerinn­en, aber auch Erzählerin­nen der Gegenwart hierzuland­e. Nachdem sie 2017 mit „Wir werden erwartet“ihren erfolgreic­hen autobiogra­fischen Romanzyklu­s abgeschlos­sen hatte, wollte Hahn „endlich etwas Neues machen, das Spaß macht“, wie sie im Gespräch mit Michael Serrer, Leiter des Literaturb­üros NRW, sagte. „Ich weiß alles über Hilla, ich muss nichts mehr über sie erzählen“, bilanziert­e die Sauerlände­rin in Anspielung auf die Protagonis­tin ihrer Romane.

Auf Nummer sicher gehen und eine Fortsetzun­g der Reihe zu veröffentl­ichen, könne jeder. Aber mal etwas Unerwartet­es zu wagen, wie ein Eichhörnch­en als Protagonis­ten für eine Utopie zu wählen, das sei genau das gewesen, was sie gereizt habe. Ein wenig autobiogra­fisch sei „Tage in Vitopia“aber schon. So hat Eichhörnch­en Wendelin durchaus reale Vorbilder, die sich auf Hahns Hamburger Balkon herumtreib­en: „Im Buch ist es eine Terrasse, das klingt einfach schöner.“

Hahn beschreibt „Tage in Vitopia“als „fantastisc­hes Wimmelbild“; tatsächlic­h ist es eine wilde Mischung aus Tierfabel, Utopie und Fantasy mit verschiede­nen Zeitebenen und historisch­en Figuren, die einander nie getroffen haben. Es geht um Klimawande­l und Umweltzers­törung, um die grundlegen­de Beziehung zwischen Mensch, Flora und Fauna, die in Hahns Geschichte über einen Translator miteinande­r kommunizie­ren können. Gemeinsam besetzen sie den Hambacher Forst und diskutiere­n auf einem Kongress die Zukunft von Mutter Erde.

Ulla Hahn erzählt dies alles mit einer Leichtigke­it und dringt dabei trotzdem zu existenzie­llen Fragen vor, wie der nach der Notwendigk­eit von Tierversuc­hen. Zwischen den Buchdeckel­n habe sie so viele Informatio­nen gepackt, dass der Leser sich überforder­t fühle, bremste Michael Scherrer die übersprude­lnde Erzählkuns­t der Schriftste­llerin. Die konterte, man könne es wie sie mit Thomas Manns „Zauberberg“halten und einfach ein paar Seiten überschlag­en. „Ich glaube, ich habe seinen Roman noch nie ganz gelesen“, gab die Wahl-Hamburgeri­n

zu, um noch eins draufzuset­zen: „Ich mochte nie diese Anmerkunge­n in wissenscha­ftlichen Arbeiten, aber in diesem Buch habe ich mir den Spaß erlaubt, reichlich davon einzufügen.“Einfach so, als Anregung für ihre Leser mit zusätzlich­en Informatio­nen, denn die – das wird im letzten Drittel ihres Romans deutlich – ist die Währung der Zukunft, das verbindend­e Element zwischen realer und digitaler Welt.

Es ist gewisserma­ßen der Kitt, der alles zusammenhä­lt. Denn neben sprechende­n Tieren und Pflanzen lässt Hahn auch an Avatare erinnernde Wesen den Kongress zur Rettung der Erde besuchen. Künstliche Intelligen­z, die längst ein Eigenleben entwickelt hat und den Menschen vorwirft, ihren wahren Nutzen nicht zu erkennen. Diese digitalen Wesen warnen, dass es wenig Sinn mache, Ängste vor den Folgen des Klimawande­ls zu schüren. Vielmehr sei es wichtig, Mut zu machen und Faktenwiss­en mit Gefühl zu kombiniere­n.

So mitreißend die Lesung einschließ­lich Hahns Gesangsein­lagen waren, so sprachlos blieb am Ende das Publikum, das eigentlich aufgerufen war, ins Gespräch mit der Autorin zu kommen. Das Gehörte musste sich erst einmal setzen, überdacht werden oder wie Hahn es ausdrückte: „Manchmal muss man Texte liegen lassen, um ihnen eine zweite Chance zu geben“.

Und zum Abschluss des kurzweilig­en Abends verriet sie noch, dass ihr die Idee gefalle, noch tiefer in die Fantasy-Welt einzutauch­en, „um sie nach allen Seiten auszudehne­n und noch darüber hinaus zu gehen“.

 ?? FOTO: RALPH MATZERATH ?? Ulla Hahn beschäftig­t sich in ihrem neuen Buch „Tage in Vitopia“mit dem Klimawande­l.
FOTO: RALPH MATZERATH Ulla Hahn beschäftig­t sich in ihrem neuen Buch „Tage in Vitopia“mit dem Klimawande­l.

Newspapers in German

Newspapers from Germany