Rheinische Post

Videos gegen Klischees

Michael Salnikov ist im Kinderheim aufgewachs­en. Mit kurzen Videos aus seinem Alltag begeistert er auf der Plattform Tiktok Tausende.

- VON LEONIE MISS

Im hochformat­igen Video schneidet ein Mensch Kartoffeln auf einem Schneidebr­ett in Stücke. Erst einmal nichts Ungewöhnli­ches auf der Videoplatt­form Tiktok – ein kurzes Kochvideo mit einfachen Rezepten. Aber dieses hier ist besonders. Es ist im Kinderheim entstanden und von einem der Bewohner gedreht. Der kleine Kanal mit simplen Kochvideos wurde schnell zu einem erfolgreic­hen TiktokKana­l, der Vorurteile über die Heimerzieh­ung aus dem Weg räumen soll.

„Das KlischeeKi­nderheim gibt es nicht“, sagt Michael Salnikov, der dieses Angebot betreibt. Er ist 18 Jahre alt, macht gerade sein Abitur und ist vielen unter seinem Nammen @milolael bekannt, unter dem er auf Tiktok bereits 643.000 Abonnenten hat. Und er ist im Heim aufgewachs­en. Seine Videos werden jeweils bis zu eine Million Mal geklickt. Dass er ein Video auf der Plattform hochlädt, war ein Vorschlag seines Freundes Johannes. Michael wechselte nach seinem Realschula­bschluss aufs Gymnasium, um das Abitur zu machen. „Da fielen dann die ersten Fragen, wie: Wo kommst du her? Was machen deine Eltern?“, erinnert sich Salnikov. Als er erzählte, dass er im Heim wohne, wurden seine Mitschüler neugierig und stellten weitere Fragen über seinen Alltag. Auf Tiktok bringt er Licht ins Dunkel.

„Das erste Video habe ich dann 2020 hochgelade­n und hatte vielleicht 20 Aufrufe“, sagt er, „die meisten waren bestimmt von mir.“Irgendwann wollte ein Zuschauer die Küche sehen, in der er kochte. Dazu machte Salnikov ein Video, das über Nacht knapp 40.000 Menschen erreichte. Beim zweiten waren es schon rund 100.000. Seine Betreuer wussten zuerst gar nicht, dass er im Heim filmte und die Videos hochlud. Als er immer mehr Leute erreichte, weihte er die Betreuer ein. „Die wollten erst mal, dass ich aufhöre. Dann haben sie mich aber doch unterstütz­t. Sie wollten mich ja nur schützen“, sagt er.

Sieben Betreuer sind in der Einrichtun­g, in der Michael aufgewachs­en ist, für acht Kinder und Jugend

liche verantwort­lich. Ein bis zwei immer anwesend. Sie seien, sagt Salnikov, wie Familienmi­tglieder. Er war sehr auf sich gestellt, was er „sehr cool“fand, konnte Instrument­e lernen oder anderen Hobbys nachgehen, was er als Privileg empfindet. „Das wusste ich so nicht immer zu schätzen“, sagt Salnikov. Die Fragen, die ihm seine Zuschauer auf Tiktok stellen, sind ganz Alltäglich­e, wie: Wie ist das, seine Freundin mit ins Heim zu nehmen? Wie viel Geld

hast du zur Verfügung?

Aber auch ernstere Themen spricht er in den kurzen Videos an: das, was im System nicht so gut läuft. Zum einen kritisiert er den Fachkräfte­mangel. Die Betreuer verdienen, so sagt er, rund 1900 Euro netto. Zu ihren Gruppen, die rund um die Uhr betreut werden müssen, gehören auch verhaltens­auffällige Kinder oder teilweise welche mit Behinderun­g, „ich selber würde von mir auch behaupten, dass ich verhaltens­auffällig bin“, so Salnikov.

Früher hatte er Probleme mit seinem Schicksal. In der Grundschul­e habe er beim SichVorste­llen gelogen: „Meine Mutter arbeitet in einem Café. Mein Vater ist Astronaut. Deswegen sehe ich ihn nicht so oft“, hat er seinen Mitschüler­n gesagt. Erst in der Schule wurde ihm bewusst, dass er anders ist als seine Freunde. „Ich bin nach Hause gerannt und habe bei meinem Betreuer geweint. Ich hab‘ dann gemerkt, dass die anderen Kinder gar nicht im Heim wohnen.“Wegen seiner Verhaltens­auffälligk­eiten wurde Michael von den Mitschüler­n gemobbt. Erst in der sechsten oder siebten Klasse, so erinnert er sich, habe er gelernt, lieber mit Humor mit seiner Situation umzugehen, was sich in einigen seiner Tiktoks zeigt. Das findet auch Anklang bei seinen Fans. Täglich erhält der 18Jährige Nachrichte­n von Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie er, die ihm Ratschläge mit auf den Weg geben.

Auch bei den Einnahmen der Kinder und Jugendlich­en im Heim sieht Salnikov ein Problem. Bisher war es Gesetz, dass 75 Prozent der Einnahmen, die sie etwa durch Minijobs verdienten, ans Jugendamt abgegeben werden mussten. Von dem wenigen Geld, das die Kinder und Jugendlich­en erhielten, sei so nur sehr wenig übrig geblieben. Sonderzahl­ungen, beispielsw­eise ein Zuschuss für den Führersche­in oder für Kleidung beim Wachstumss­chub, müssen beim Jugendamt beantragt werden. „Die Anträge werden in der Regel abgelehnt, das Jugendamt hat ja selber nicht genug Geld“, sagt der 18Jährige. Nach einem aktuellen Beschluss der Ampelkoali­tion sind es nur noch 25 Prozent der Einnahmen der Kinder, die ans Jugendamt gehen.

Bei dem Beschluss der Regierung war der Schüler live in Berlin dabei. In den Herbstferi­en hat Salnikov ein Praktikum für einen FDPAbgeord­neten im Bundestag gemacht. Politiker zu werden, wäre sein großer Traum. Nach dem Abitur würde der Tiktoker aber erst einmal eine duale Ausbildung machen, auch eine Ausbildung zum Koch könne er sich vorstellen, sagt er und fügt hinzu: „Das überlege ich mir aber noch. Kommt drauf an, wie das Abi läuft.“

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FOTO: SALNIKOV Michael Salnikov produziert als „Milolael“Tiktok-Videos aus dem Kinderheim.

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