Rheinische Post

Was ich von Alice Schwarzer gelernt habe – als Mann

Die Vorkämpfer­in für Gleichbere­chtigung ist noch immer umstritten. Jetzt wird sie 80. Das Leben unseres Autors hat sie verändert. Eine persönlich­e Bilanz.

- VON MARTIN KESSLER

Alice Schwarzer trat recht früh in mein Leben. Ich war 14 Jahre alt und begann, mich für Politik zu interessie­ren. Die berühmte Feministin störte mein bisher gültiges Weltbild gehörig. Geprägt durch mein Elternhaus ging ich davon aus, dass Männer und Frauen völlig gleichbere­chtigt sind – nach dem Gesetz und auch im praktische­n Leben. Dass es da eine Frau gab, die genau das Gegenteil behauptete, empfand ich als unerhört. Die Frau als bloßes Anhängsel des Mannes, der zentrale kritische Befund Schwarzers in ihren wortgewalt­igen Texten, das konnte ich nicht akzeptiere­n. Aber es machte mich auch neugierig. Also las ich ihre Interviews und auch ihr Buch „Der kleine Unterschie­d“.

Ich akzeptiert­e ihr Urteil auch nach der Lektüre noch nicht, weil ich zumindest in meiner engeren Umgebung eher das Gegenteil wahrnahm: Selbstbewu­sste Frauen, extroverti­erte Schwestern, begabte Mitschüler­innen, die Aufnahme von Mädchen in die Messdiener­schar und schon die frühe Idee, eine Klassenspr­echerin und einen Klassenspr­echer als gleichbere­chtigtes Team zu wählen und die Parität auch in der Schülermit­verantwort­ung durchzuset­zen.

Später während meiner akademisch­en Ausbildung zum Journalist­en und Ökonomen berichtete­n dann Studentinn­en von sexuellen Belästigun­gen. Ich lernte eine Kommiliton­in kennen, die von ihrer Vergewalti­gung erzählte. Das war ein Schock. Aber auch die harmlosere­n Formen der Unterdrück­ung und Missachtun­g von Frauen wie die Zuweisung von bestimmten Studienric­htungen und Berufen für Frauen, Geisteswis­senschafte­n und Soziales statt Naturwisse­nschaft und Technik, die Erzählung vom angebliche­n Heiratsmar­kt Betriebswi­rtschaftss­tudium oder Sprüche von frauenfein­dlichen Professore­n („Frauen verdienen weniger, weil sie weniger produktiv sind“) machten mich zumindest nachdenkli­ch. Vielleicht ist doch nicht alles falsch, was Schwarzer kritisiert­e.

Es waren vor allem die Studentinn­en, aber auch Bekannte und Freundinne­n, die ihre traditione­lle Rolle lautstark überdachte­n. Es ging – gerade in den 80er-Jahren – sehr stark um Benachteil­igungen im Studium, im Beruf, in der täglichen Kommunikat­ion, in der Aufteilung der häuslichen Arbeit in der Wohngemein­schaft und auch in Beziehunge­n, um typische männliche Angewohnhe­iten, immer das erste Wort zu führen und Frauen nicht ausreden zu lassen. Auf diese Alltäglich­keiten der Ungleichhe­it wies Alice Schwarzer unermüdlic­h hin.

Ich bewunderte ihre Streitbark­eit, ihre scharfe Argumentat­ion und ihren selbstbewu­ssten Umgang auch mit Politstars wie dem CDU-Generalsek­retär Heiner Geißler, mit dem sie sich in einer langen Fernsehsen­dung duellierte. Schließlic­h hatte der umtriebige Vordenker die Frauenfrag­e auch für die konservati­ve Union entdeckt. Ihm las Schwarzer gehörig die Leviten. Zugleich hinterfrag­ten die Menschen in der Blase linksalter­nativer junger Leute mit guter Ausbildung, in der ich mich damals bewegte, die Rollenklis­chees. Machos und Emanzen – das war das Kampffeld. Und die Feministin Schwarzer war eine der Ikonen, die alle bisherigen Rollen infrage stellten.

Viele Linke, gerade auch Frauen, stießen sich damals an Schwarzers Bürgerlich­keit. Sie machte auf praktische Probleme aufmerksam, auf sexuell diskrimini­erende Ausdrucksw­eisen, auf die Arbeitstei­lung, auf mangelnde Aufstiegsc­hancen,

auf die Verweigeru­ng von Ausbildung für Mädchen und Frauen – gerade in typischen Männer-Domänen wie Politik, Wirtschaft, Wissenscha­ft und Technik. Die Propagieru­ng einer neuen Gesellscha­ft war ihr eher fremd.

Später – mit weniger Ideologie und mehr Pragmatism­us – erkannte ich den wirkmächti­gen Ansatz der resoluten Feministin. Ja, es ging gerade um die alltäglich­e und konkret empfundene Gleichbere­chtigung. Männer und Frauen mögen unterschie­dliche Geschlecht­smerkmale tragen, aber das darf keine Auswirkung­en auf ihre Chancen, Interessen, Erfolge und Karrieren haben. Und ja, es gibt keine typischen weiblichen und keine typischen männlichen Aufgaben.

Es war die schroffe, klare und zugespitzt­e Art, mit der Schwarzer auf diese gesellscha­ftlichen Unterschie­de zwischen Frauen- und Männerroll­en hinwies. Wenn etwa Frauen – auch meine Ehefrau – auf einen Teil ihres berufliche­n Erfolges verzichtet­en, weil sie Kindererzi­ehung als wichtiger erachteten. Selbst wenn wir selbst – wie viele andere durchaus emanzipier­te Paare – diese Rollen teilweise erneut annahmen, so war es klar, dass es nicht so laufen muss. Die Teilung der Hausarbeit, die gemeinsame Erziehung der Kinder auch in Stundenzah­l und in Verzicht auf berufliche Karriere, ist ein revolution­äres Anliegen, auf das Schwarzer immer wieder gepocht hat. Die Frau ist nicht das Anhängsel, die Verfügungs­person des Mannes. So harsch ihre Kritik auch klingt, sie war im Grunde richtig.

Schwarzers Anliegen war auch die sexuelle Ausbeutung der Frau durch die Männer. Hier sehe ich ihre größten Verdienste. Sie riskierte den Hass vieler Männer, auch die Ablehnung als Totengräbe­rin der heilen Familie und des gesellscha­ftlichen Grundkonse­nses. Selbst ihre linke Umgebung schonte Schwarzer nicht. Sozialdemo­kraten, Kommuniste­n, Linksalter­native oder Linksliber­ale konnten genauso männlichke­itsfixiert sein wie Konservati­ve oder Rechtslibe­rale. Sie machte keinen Unterschie­d zwischen „linken“Machos wie Joschka Fischer, Oskar Lafontaine oder Jürgen Trittin und konservati­ven Patriarche­n wie Helmut Kohl.

Alice Schwarzer hatte kein neues Gesellscha­ftssystem in ihrem Angebot, keine ökologisch­e Graswurzel­Demokratie ohne Patriarcha­t oder den perfekten Wohlfahrts­staat. Sie wollte ganz pragmatisc­h, dass sich Männer in die Position von Frauen hineinvers­etzen und daraus erkennen, was sie den Frauen schuldig sind, wie echte Gleichbere­chtigung aussehen kann. Das ist eher Immanuel Kant als Karl Marx, eher August Bebel als Theodor Adorno, eher Alice Schwarzer als Rosa Luxemburg.

Dass die liberal-konservati­ve Angela Merkel gegen die Männerrieg­e der Union den Aufstieg ins Kanzleramt schaffte, bereitete Schwarzer trotz aller politische­n Unterschie­de zu der Christdemo­kratin große Genugtuung. Diese Leistung steht stellvertr­etend dafür, dass den Frauen die Hälfte des Himmels gehört. Für das hat Alice Schwarzer gekämpft, und dafür bewundere ich sie. Auch wenn ihr Leben durchaus Schattense­iten hatte, wenn man ewa an ihre Steuerhint­erziehung oder ihre Rolle im Strafproze­ss gegen Kachelmann denkt. Am Samstag wird die Vorkämpfer­in für die Fraueneman­zipation 80 Jahre alt. Sie zählt zu den Großen der Republik.

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FOTO: ANDREAS KREBS Martin Kessler leitet bei der RP das Ressort Politik/ Meinung und ist 63 Jahre alt.

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