Der Mythos Little Italy
Mit italienischen Gastarbeitern, die in der Glashütte arbeiteten, hat alles angefangen. Viele sind mit ihren Familien geblieben und haben dafür gesorgt, dass kein Stadtteil in Düsseldorf heute so italienisch geprägt ist wie Gerresheim.
LLittle Italy in Gerresheim lebt – immer noch. Vielleicht mag das ein oder andere Lokal im Zuge der Corona-Krise entlang der Heyestraße nicht überlebt haben, gibt es dort inzwischen vermehrt Leerstand, dennoch ist gerade der Süden von Gerresheim nach wie vor sehr italienisch geprägt. Das hängt natürlich vor allem mit der Glashütte zusammen und macht einen Blick zurück in die Vergangenheit unabdingbar.
In der Zeit des Wirtschaftswunders stieg die Produktion auch in der 1864 von Ferdinand Heye gegründeten (und 2005 geschlossenen) Glashütte stark an, Facharbeiter waren nach dem Zweiten Weltkrieg Mangelware. Deshalb wurden neue Fachkräfte im Ausland angeworben, unter anderem eben in Italien. „1955 wurde Danella Gerardo als erster italienischer Gastarbeiter in der Glashütte angestellt. 1961 arbeiteten hier bereits 580 Italiener. 1964 waren es 750“, weiß Peter Stegt zu berichten, keiner kennt sich besser aus mit der Gerresheimer Geschichte als der Historiker.
Jeder Neuankömmling erhielt 30 Mark Handgeld und sollte einen Sprachkurs besuchen. Für die Integration tat die Glashüttenleitung einiges. Es gab nicht nur zweisprachige Beschilderungen im Werk, sondern auch gemeinsame Abende mit Gesangs- oder Instrumentalvorführungen. Die Werkszeitung berichtete darüber, in dem Artikel heißt es: „Schließlich ist es nicht mit Sprachkursen getan, zur Verständigung gehört mehr. Die zweisprachigen Kurse für Volksmusik, Zeichnen und Malen, Flugmodellbau und Fotolaborarbeiten können das gegenseitige Kennenlernen erheblich fördern.“
Es ist vor allem eine Biografie, die prägend für diese Zeit war: Leonardo Labanca bestieg im Alter von 23 Jahren mit nur einem Koffer am 13. Februar 1962 den Zug nach Deutschland, er folgte dem Ruf seines Bruders, der bereits in der Glashütte arbeitete. Drei Tage später kam er in Gerresheim an und bekam eine Anstellung in der Hütte. 32 Jahre hat er dann „op de Hött“gearbeitet und mit seiner Familie fortan in Gerresheim gelebt.
Seine Tochter Rosetta führte auf der Heyestraße lange einen Friseursalon, inzwischen ist Enkelin Maria dort die Chefin. Rosetta Scorpaniti erinnert sich jedenfalls noch immer gerne an ihre Kindheit, als sie auf einer Werkslokomotive an der Morperstraße spielte. Oft denkt sie auch an den „Waschtag“, an dem sie im Heyebad für 50 Pfennig duschen durfte. Denn in den Arbeiterwohnungen gab es kein eigenes Bad.
„Mein Opa war ein lebensfroher Mensch, Mittelpunkt jeder Familienfeier. Im Garten an der Scheerenburger Straße haben wir zusammen Wein angebaut. Tagsüber trug er immer Arbeiterkluft, da es stets etwas zu reparieren gab, ab einer gewissen Uhrzeit dann aber nur noch Anzug“, berichtet Enkelin Maria Scorpaniti. 1973 hat sich Labanca dann in den alten Hochbunker eingemietet, dort nebenbei ein Lebensmittelgeschäft geführt, später dann ein Bistro.
Er hat Wände eingerissen, alles vergrößert, wollte jedem seiner Kinder zudem eine Etage in dem Bunker herrichten. „Dazu ist es dann nicht gekommen“, sagt Tochter Rosetta Scorpaniti. „Mein Vater hat schließlich noch zwei Häuser gekauft, immer der Familie in Italien Geld geschickt. Er hat in der Hütte und im Geschäft gearbeitet, die Mama und wir Kinder haben im Laden geholfen. Mein Vater war bis zu seinem Tod ein Arbeitstier“, erzählt Rosetta Scorpaniti. Ihre liebste Erinnerung: Zusammen mit dem Vater morgens um 3 Uhr zum Großmarkt zu fahren. „An Ausgehen und Disco war bei uns nicht zu denken, vermisst haben wir es aber auch nicht.“
Die Keimzelle von „Little Italy“ist heute natürlich immer noch im Gerresheimer
Süden verortet. Um das zu dokumentieren, hat die Glashüttenstraße jetzt ein Straßenschild mit der entsprechenden italienischen Übersetzung erhalten: Via della Vetreria ist dort zu lesen – weil die Idee so gut in Little Tokyo an der Immermannstraße ankam. Das italienische Ambiente entlang der Heyestraße spiegelt sich natürlich vor allem in den Restaurants und Cafés wider, auch wenn es inzwischen ein paar weniger wurden.
Überhaupt ist es irgendwie ruhiger geworden im unteren Gerresheim. Als Italien sich gegen die Ukraine mit einem zugegebenermaßen müden 0:0-Kick auf den letzten Drücker das Ticket für die Fußball-EM in Deutschland sicherte, war kaum ein Mensch in den Cafés anzutreffen. Das war vor drei Jahren bei der EM noch anders: Sowohl nach dem Halbfinalsieg gegen Spanien als auch nach dem Endspiel-Triumph gegen England im Elfmeterschießen herrschte Ausnahmezustand in Gerresheim. Die Tifosi feierten mit Bengalos, die Polizei musste einschreiten, die Straße teilweise sperren, es kam zu kleineren Ausschreitungen.
Aber zurück zur Tradition: Das erste italienische Lokal war Mama Lisi an der Nachtigallstraße, seit fast 60 Jahren kommen hier Pizza und Pasta auf den Tisch, zubereitet und serviert von der inzwischen vierten Generation. Irgendwann wurde wohl das Interieur mal aufgemöbelt, das muss aber in den 70er-Jahren gewesen sein, seitdem hat sich hier nicht viel geändert – und genau deshalb kommen die Gerresheimer immer wieder. „Wir haben das alles bewusst so beibehalten“, sagt Jasmin Lisi (dritte Generation), während Ehemann Antonio die Pizza in den Ofen schiebt und Sohn Pietro (die vierte) nebenbei bedient, denn eigentlich macht er eine „richtige“Gastro-Ausbildung.
Jasmin ist „angeheiratet“, spricht aber längst akzentfrei Italienisch. Sie hat alle Rezepte von Schwiegermama Rosa übernommen. Rosa wiederum war die Schwiegertochter von Giuseppa, die alle nur Mama Lisi nannten, der Gründerin des Familienbetriebs. Etwas kompliziert, aber so ist das nun mal, wenn es italienische Familiengeschichte zu ergründen gilt. Jedenfalls wimmelte es Ende der 1960er Jahre ja nur so vor Italienern in Gerresheim, die mit Bratwurst und Sauerkraut aber nicht viel anzufangen wussten. Da hatten Domenico Lisi und seine Giuseppa die Idee, ein Restaurant in unmittelbarer Nähe zu eröffnen, um ihren Landsleuten ein wenig heimische Küche zu bieten. Und das ist bis heute so geblieben.
Antonio jedenfalls half auch schon früh im Restaurant mit, „übernehmen wollte ich es aber eigentlich nie“, sagt der gelernte KfzMechaniker. Aber die Familientradition geht natürlich vor eigenen Befindlichkeiten, und so sprangen Antonio und Jasmin ein, als die Eltern verstarben. Die Küche im Mama Lisi ist bodenständig und dennoch raffiniert, die Karte ziemlich umfangreich, „die Gäste wollen das so“, betont Jasmin. Verzichten wollen die ganz bestimmt nicht auf die grüne Pizza (wegen des Spinats). Das grüne Gemüse muss Mama Lisi eines Tages wohl mal in den Teig gefallen sein, wird vermutet.
Wie gesagt: Die Heyestraße hat schon bessere Tage erlebt, die Pandemie war da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Vor allem Schließungen von Firmen und Geschäften haben dazu beigetragen, dass auch die Kunden in den italienischen Cafés und Restaurants ausblieben: Die Unfallkasse als großer Arbeitgeber ist weggezogen, Rewe und Rossmann haben ihre Filialen ebenso geschlossen wie die Sparkasse. Und viele hier bezweifeln, dass jemals auf dem Glashüttengelände Wohnungen gebaut werden, in denen dann Menschen leben, die an der Heyestraße einkaufen. Ein durchaus beachtlicher Erfolg war das Deutsch-Italienische Fest, das hier ein paar Mal stattfand, doch die „Gemeinschaft Heye-Siedlung“als Organisator hat sich vor anderthalb Jahren aufgelöst. Zwei Jahre hat ein Stadtplanungsbüro bis Ende 2023 ein Zentrenmanagement auf der Heyestraße durchgeführt, um Defizite aufzudecken und nach Möglichkeit zu beheben. In diesem Rahmen wurde auch der Aktionstag wieder neu ins Leben gerufen. Doch jetzt, wo das Programm ausgelaufen ist, herrscht bei den unmittelbar Beteiligten doch eher Skepsis, ob diese Maßnahme die Heyestraße wirklich nach vorne gebracht hat. Und dennoch: Die Nachbarschaft funktioniert noch. Als Maria Scorpaniti kurz vor dem Lockdown ihren Friseursalon voll bis unter das Dach hatte und bis Mitternacht durchgearbeitet wurde, „haben uns die Gastronomen Kaffee, belegte Brötchen und Pasta gebracht, das war unglaublich“. Das ist halt italienisches Gemeinschaftsgefühl.
Am Ende der Heyestraße angekommen, gibt es noch so ein Restaurant, das in Gerresheim jeder kennt, vor allem natürlich wegen des Chefs: Enrico de Angelis führt seit fast 25 Jahren das Saltimbocca am Kölner Tor. 84 Jahre jung ist er inzwischen, doch noch immer lässt er es sich nicht nehmen, in seinem Lokal als Entertainer aufzutreten und zu Mambo No. 5 den Grappa zu flambieren. „Papa Enrico“, wie er in Gerresheim oft nur gerufen wird, weiler schon viele Hilfsaktionen für unterprivilegierte Minderjährige initiiert hat, begann als Liftboy in seinem Geburtsort Tolentino, absolvierte die Hotelfachschule, wurde zum Weltenbummler und kam 1965 nach Düsseldorf, wo er sich in der Altstadt das Startkapital für sein erstes eigenes Restaurant verdiente.
Das Saltimbocca war dann später Seriensieger bei der Tour de Menu und verschaffte sich so einen Namen in der ganzen Stadt. Mit der Rheinischen Post veranstaltete er italienische Abende, der Erlös kam immer Kindern zugute. De Angel isistBun des verdienst medaillen träger und außerdem Cavaliere, was soviel wie Ritter bedeutet, eine hohe italienische Auszeichnung, die nur ganz wenigen Italienern auf deutschem Boden verliehen wird. „Bei mir war auch schon viel Prominenz im Restaurant“, erzählt der Gastronom, und wie sich das für einen richtigen Italiener gehört, hat er all diese Besuche auf Fotos festgehalten, die bei ihm an der Wand hängen: von Marius Müller-Westernhagen bis Roberto Blanco – und nicht zu vergessen sämtliche italienische Konsuln der vergangenen Jahrzehnte. Nicht zuletzt: De Angelis war schon mehrfach „fittester Mann in Düsseldorf“– zumindest in diesem Punkt muss der 84-Jährige seine Ansprüche mittlerweile etwas zurückschrauben.
Und natürlich hat sich das italienische Flair längst auch an der Benderstraße ausgebreitet. Vom L’arte in Cucina mit seinem schönen Biergarten am Rathaus bis zum Ristorante Lerose, das vor einigen Jahren noch einen verheerenden Brand zu beklagen hatte, ist die Auswahl groß. Mitten drin: das Sapori del Sud von Angelo Vaccaro, der vor einigen Jahren noch eine beachtliche Größe im Düsseldorfer Amateurfußball war (Fortuna II, DSC 99). 2018 eröffnete er das Geschäft an der Benderstraße 45, 20 Jahre hat der heute 50-Jährige zuvor noch in der Telekommunikationsbranche gearbeitet. „Dann war es für mich an der Zeit, etwas zu machen, das mich wirklich erfüllt“, sagt er.
Anfangs war es noch ein reines Einzelhandelsgeschäft, in dem Vaccaro Salami, Schinken, Pesto, Olivenöle und Weine verkaufte, im vergangenen Jahr sind Tische dazugekommen, sodass er fortan den Feinkostverkauf mit einem Restaurantbetrieb verbinden konnte. Seine Mission: „Die Zubereitung klassischer Gerichte, aber in gut.“Dazu zählen Saucen wie Bolognese und Carbonara, Lasagne und erst recht die selbstgemachten Salsiccia, die etwas andere Bratwurst. Statt Gouda wird Parmesan oder Mozzarella verwendet, die Pasta ist grundsätzlich ohne Konservierungsstoffe. Aber: „Bei mir steht Fleisch schon klar im Vordergrund.“Vaccaros sizilianischen Wurzeln sind dabei immer unverkennbar, „bei uns zu Hause wurde früher immer gerne und viel gekocht“, so Vaccaro, der selbst in Düsseldorf geboren wurde. „Das Brot wurde zum Beispiel grundsätzlich selbst gebacken, das war Ehrensache“, betont er.
Dass der Vater es sich dabei nie nehmen ließ, in der Küche mitzuwirken, überrascht ein wenig. Denn, wie Vaccaro erzählt: „Als meine Eltern in den 60ern nach Düsseldorf kamen, hat mein Vater natürlich auch angefangen, in der Glashütte zu arbeiten.“Und damit schließt sich der Kreis an dieser Stelle.