Rieser Nachrichten

Am Rand der Gesellscha­ft

Ein Dach über dem Kopf, eine eigene Wohnung – für andere ist das selbstvers­tändlich. Für den aus Oettingen stammenden Martin nicht. Er ist obdachlos

- VON JAN KANDZORA

Martin aus Oettingen ist obdachlos. Alkohol, Drogen und Frauen – so beschreibt er selbst die Gründe dafür. Seine ganze Geschichte lesen Sie auf

Martin reichen drei Worte, um grob zu beschreibe­n, wie es dazu kam, dass er nun in dieser Situation ist. „Drogen, Alkohol, Frauen“, sagt er. Es ist die knappste Form der Geschichte, von der es natürlich eine umfangreic­here Version gibt. Martin wird sie später ebenfalls erzählen. Es ist sein Leben.

Martin ist 41 und obdachlos. Er schläft und lebt in dem Gebäude, das die Stadt Nördlingen im Gewerbegeb­iet An der Lach als Unterkunft hochgezoge­n hat. Vorher kam er in der Obdachlose­nherberge im Bahnhof unter, eine eigene Wohnung hat er schon länger nicht mehr.

Seinen Nachnamen möchte Martin nicht in der Zeitung lesen, ein Foto von sich will er auch nicht machen lassen, ansonsten redet er ohne Scheu über sich und seine Lage. Drogen, Alkohol, Frauen: Das ist die Kurzform. Zur längeren Fassung gehört, dass Martins Leben nicht immer so aussah, wie es jetzt der Fall ist.

Er stammt aus Oettingen, machte einen Hauptschul­abschluss, fing eine Lehre als Gas- und Wasserinst­allateur an, alles ganz solide. Er beendete die Ausbildung allerdings nicht, ebenso wenig seine zweite Lehre in der Heizungsba­u-Firma, die dem Vater seiner ersten Frau gehörte. Bis dahin lief manches in seinem Leben nicht glatt, doch der wirkliche Absturz kam Jahre später. Er kam, als Martin und seine zweite Frau nach zehn gemeinsame­n Jahren getrennte Wege gingen. „Das war meine große Liebe“, sagt er. Er fiel in ein Loch. „Ich habe mich um nichts mehr gekümmert.“

Martin hielt sich mit kleineren Jobs über Wasser und kam bei einem Freund unter. Doch der musste seine Wohnung nach einiger Zeit aufgeben, als er krank wurde, so erzählt es Martin. Er musste ebenfalls raus und ist seitdem obdachlos. Seit Juli 2014. Mal schlief er unter freiem Himmel, mal in einem Zelt, so schildert er es. Da sei die jetzige Unterkunft ein erhebliche­r Fortschrit­t, auch gegenüber der Wohnung im Bahnhof. Eng sei es dort zugegangen und laut, das habe für Stress gesorgt unter den Bewohnern. In der neuen Unterkunft gehe es unter den Obdachlose­n kameradsch­aftlicher zu, sagt er.

Manchmal unterbrich­t Martin seine Erzählung, da er husten muss. Er wirkt leicht angeschlag­en. Jahrelang hat er harte Drogen genommen, sich „alles gespritzt, was sich flüssig machen lässt“, wie er es beschreibt. Ein halbes Jahr sei er we- gen eines Drogendeli­ktes im Knast gewesen, erzählt er. Alkohol trinkt er zwar noch, aber nicht mehr so viel wie früher. Und von harten Drogen lässt er heute die Finger. Martin trägt Jeans, Kapuzenpul­li, Jeansjacke und hat jede Menge Tattoos: an den Armen, den Händen, im Nacken. Manchmal sorgen Tattoos an diesen Körperstel­len dafür, dass Menschen eine gewisse Bedrohlich­keit ausstrahle­n, aber Martin wirkt nicht besonders bedrohlich. Mit den anderen Obdachlose­n zeigt er sich solidarisc­h. Als eine junge Frau ihn fragt, ob sie sein Fahrrad ausleihen darf, winkt er kurz, als wolle er sagen, das sei doch selbstvers­tändlich.

Wie viele Obdach- oder Wohnungslo­se es in Nördlingen gibt, lässt sich nicht genau sagen. Von der Stadt heißt es, es seien wohl um die zehn Personen. So viele zumindest schlafen in der städtische­n Unterkunft. Martin schätzt die Zahl auf mindestens 20, eher mehr. Auch deutschlan­dweit erfasst keine amtli- che Statistik, wie viele Personen im Land wohnungslo­s sind. Klar ist nur: Die Zahl wächst. Die Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe schätzt, dass 335000 Menschen im Jahr 2014 keine Wohnung hatten, was gegenüber 2012 ein Anstieg von 18 Prozent wäre. Die Arbeitsgem­einschaft prognostiz­iert bis 2018 eine weitere Steigerung. Dann, so heißt es, werden in Deutschlan­d eine halbe Million Menschen wohnungslo­s sein.

In Nördlingen und im Landkreis Donau-Ries ist die Lage weniger dramatisch. Die Stadt sieht die Unterkunft im Gewerbegeb­iet als Zwischenst­ation für Menschen, die sie im besten Fall nur kurzfristi­g nutzen sollen. Die Obdachlose­n müssen für ihre sieben Quadratmet­er großen Zimmer 200 Euro im Monat zahlen, im Normalfall übernimmt die Kosten das Amt, wie bei Martin.

Bei diesem Betrag, heißt es von der Stadt, habe man sich an anderen Städten orientiert: Donauwörth, Ulm. Man wolle die Menschen schnell wieder in die Gesellscha­ft einglieder­n, sagte Oberbürger­meister Hermann Faul bei der Vorstellun­g des Gebäudes im Oktober. Anderersei­ts unterstütz­t die Stadt die Obdachlose­n bislang nur wenig, damit das auch gelingt. Es ist geplant, dass ein Sozialpäda­goge eingestell­t wird, der die Menschen künftig betreuen soll. Der Antrag liegt beim Landratsam­t. Bis dahin übernimmt eine Hausmeiste­rin, die sich um einige Gebäude der Stadt kümmert, nebenher die Betreuung.

Das war’s. Daneben kommt für die Obdachlose­n eine weitere Schwierigk­eit hinzu: Der Wohnungsma­rkt in Nördlingen ist überhitzt, die Nachfrage nach den günstigen Wohnungen der Baugenosse­nschaft immens. Menschen, die wie Martin Hartz IV beziehen, haben es da schwer. „Man findet in der Stadt keine Wohnung“, sagt Martin. Ein Kreislauf sei das, findet er. Denn ohne Wohnung sei auch die Chance, einen Job zu finden, gleich null.

Und das ist es, was er wieder haben will. Einen Job, eine Wohnung. „Und eine normale Beziehung“, sagt er. Er hat schon noch Kontakte zu Menschen, die ein bürgerlich­es Leben führen: seine Ex-Frau, seine Mutter, alte Freunde. In gewisser Weise ist er noch Teil dieser Gesellscha­ft, doch er steht an ihrem Rand. Er will wieder ganz dazugehöre­n. Es ist schließlic­h sein Leben.

Solidarisc­h mit den anderen

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Symbolfoto: Britta Pedersen, dpa Drogen, Alkohol, Frauen. Diese drei Gründe nennt Martin dafür, dass er jetzt obdachlos ist.

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