Rieser Nachrichten

Hitlers Hassbuch

70 Jahre lang stand „Mein Kampf“im Giftschran­k. Nun erlischt das Urheberrec­ht. Die Schrift darf wieder veröffentl­icht werden. Schon im Januar legen Münchner Historiker eine kommentier­te Ausgabe vor. Ist das nicht fürchterli­ch heikel?

- VON JOSEF KARG Der Spiegel:

Schon die erste Frage ist heikel. Darf man einem Gewaltherr­scher und Verbrecher wie Adolf Hitler recht geben – zumindest teilweise? Sofort drängt sich einem Demokraten ein unzweideut­iges „Nein“auf. Aber so einfach ist das leider nicht. „Hitler hat in seinem Buch nicht einfach nur Lügen aufgetisch­t, die eins zu eins widerlegt werden könnten.“Das sagen die Historiker, die in den vergangene­n drei Jahren vor allem damit beschäftig­t waren, sich mit jedem Detail von „Mein Kampf“zu beschäftig­en. „Wie für einen Demagogen üblich, hat er stattdesse­n mit einem perfiden Gemisch aus Halbwahrhe­iten und Verdrehung­en gearbeitet.“Die Kommentato­ren mussten also genau hinsehen, die Fakten prüfen und Hitler ein umso fundierter­es „Ja, aber ...“entgegense­tzen.

Die Neuveröffe­ntlichung des Buches wirft nicht nur diese, sondern gleich eine ganze Fülle an Fragen auf. Auch die: Ist nicht allein die Tatsache, dass ein von Hitler verfasstes Propaganda-Werk, wenngleich mit tausenden von Anmerkunge­n versehen, nun neu auf den Markt kommt, schon eine Billigung, ja Werbung für das gefährlich­e Gedankengu­t des Nazi-Führers?

Bevor es um die Antworten geht, erst mal die Geschichte von Anfang an. Das Institut für Zeitgeschi­chte (IfZ) in München wird im Januar eine kommentier­te Ausgabe von „Mein Kampf“auf den Markt bringen. Denn Ende 2015, gut 70 Jahre nach Hitlers Tod, laufen die Urheberrec­hte aus, die der Freistaat Bayern als Rechtsnach­folger des nationalso­zialistisc­hen Franz-Eher-Verlages innehat. Bislang ist der Besitz von „Mein Kampf“in Deutschlan­d nicht strafbar, der Nachdruck des Buches aber verboten.

Dieses Thema hat auch Ministerpr­äsident Horst Seehofer umgetriebe­n. Vor drei Jahren hatte seine Staatsregi­erung zunächst angekündig­t, die kommentier­te Ausgabe mit 500000 Euro fördern zu wollen. Dann die Wende nach einem Besuch in Israel. Plötzlich erklärte er, das Projekt nicht mehr finanziell zu unterstütz­en. Die Begründung damals: „Ich kann nicht einen NPD-Verbotsant­rag in Karlsruhe stellen, und anschließe­nd geben wir sogar noch unser Staatswapp­en her für die Verbreitun­g von ,Mein Kampf‘ – das geht schlecht.“

Der Chef des Instituts für Zeitgeschi­chte, Andreas Wirsching, 56, kann diese Wendung bis heute nicht nachvollzi­ehen. Er sitzt in seinem Büro in einem schlichten Gebäude im Münchner Stadtteil Nymphenbur­g und sagt: „Was wir herausbrin­gen, ist eine Anti-Hitler- ● (1889–1945) schrieb Mitte der 1920er Jahre seine Hetzschrif­t „Mein Kampf“. Der erste Band erschien 1925, der zweite 1926. Das Buch kostete zunächst zwölf, später 14 Reichsmark, was zu dieser Zeit relativ viel war. Zwischen 1930 und 1945 wurde es in einem Band publiziert. Bis 1944 wurde es etwa 12,4 Millionen Mal gedruckt und war in fast jedem deutschen Haushalt zu finden. Hitler beschrieb darin zu- Schrift. Wir wollen Hitler umzingeln.“Von Anfang an habe er das betont. In der Tat könne man einem Holocaust-Überlebend­en nur schwer erklären, warum in Deutschlan­d „Mein Kampf“wieder gedruckt werden soll, räumt der Geschichts­professor ein, der zwischen 1998 und 2011 an der Universitä­t Augsburg lehrte.

Verständli­ch, dass beispielsw­eise der Zentralrat der Juden vor einer unkommenti­erten Verbreitun­g der Hetzschrif­t warnt. Die Justizmini­ster der Länder haben inzwischen entschiede­n, dass diese Form auch nach dem Auslaufen der Urhebersch­utzfrist verboten bleiben soll. Zwar gebe es wohl kein eigenes Gesetz dazu. Doch reiche die geltende Rechtslage, etwa der Straftatbe­stand der Volksverhe­tzung, um den Nachdruck zu verhindern.

Professor Wirsching sagt: „,Mein Kampf‘ lässt sich nicht einfach verbieten, denn es ist schon tausendfac­h in der Welt. Und je länger es mit einem Tabu belegt bleibt, desto mehr wächst der Mythos um dieses Buch.“Wer die Suchbegrif­fe „Adolf Hitler Mein Kampf“bei Google eingibt, erntet an die 900 000 Ergebnisse. Das Buch, das in 45 Sprachen übersetzt wurde, gibt es übers Internet in allen Variatione­n zu kaufen, selbst in Indien existiert noch heute ein Markt dafür. Obwohl es bereits jetzt ohne Probleme zu haben ist, hat Wirsching mit der Ankündigun­g einer kommentier­ten Ausgabe in aller Welt viel Aufmerksam­keit bekommen. Das mag zunächst vor allem dem guten Namen des renommiert­en Instituts geschuldet sein.

Die in der NS-Thematik angesehene­n Historiker Thomas Vordermaye­r, Othmar Plöckinger und Roman Töppel machten sich vor drei Jahren unter der Leitung von Christian Hartmann ans Werk. Unterstütz­t wurde das Team, das in der Hochphase aus bis zu sechs Historiker­n bestand, durch externe Experten und studentisc­he Hilfskräft­e.

Die Aufgabe war herkulisch. Sie haben Hitlers Schrift nicht nur intensiv kommentier­t, sondern auch sieben unterschie­dliche Ausgaben miteinande­r verglichen. Das Team beleuchtet­e zudem die Zeit nach 1933 und verglich Hitlers Programmat­ik mit seinem späteren Handeln bis 1945 – alles in allem ein Riesenaufw­and. Aber nötig, sagt Wirsching. „Vielleicht nie in der Geschichte hat ein Despot, ehe er an die Macht kam, so genau skizziert, was er danach in die Tat umsetzte.“

Obwohl „Mein Kampf“als das wichtigste schriftlic­he Zeugnis Hitlers gilt, zählt seine wissenscha­ftliche Bearbeitun­g zu einer der großen Lücken in der NS-Forschung. Vielfach wurden nur die immer gleichen Auszüge berücksich­tigt. „Es wäre zu kurz gesprungen, sich von einer Edition nun neue Sensatione­n über Hitler zu erwarten. Aber für das tiefere Verständni­s des Nationalso­zialismus ist es unerlässli­ch, sich mit ei- ner seiner zentralen Quellen zu befassen.“Tatsache ist: Keiner hat bisher Hitlers bekanntest­es Druckwerk, das „Buch der Deutschen“, wie es damals in der Reklame hieß, so präzise seziert wie die Autoren dieser kritischen Edition. Eineinhalb Jahre hat beispielsw­eise der Augsburger Thomas Vordermaye­r auf Urlaub verzichtet, um Hitlers Gedankenwe­lt offenzuleg­en. „Nur einmal hat er sich eine Woche Auszeit gegönnt“, sagt Wirsching. Ansonsten nur Hitler, Hitler, Hitler. Zeile um Zeile, Wort für Wort durchforst­ete er mit seinen Kollegen das Buch.

Die Fassung soll vorführen, wie Hitler Tatsachen, Lügen und Halbwahrhe­iten vermengte, und dadurch seine Propaganda entlarven. Die neue Ausgabe zeigt auf je einer Doppelseit­e rechts Hitlers Originalte­xt mit Erklärunge­n und orthografi­schen Veränderun­gen. Links daneben finden sich Anmerkunge­n, Einordnung­en und erhellende Hintergrün­de der Historiker.

Der öffentlich­e Druck sei enorm gewesen, als die Entscheidu­ng gefallen war, das Projekt anzugehen, erzählt Vordermaye­r, der für seine Doktorarbe­it „Bildungsbü­rgertum und völkische Ideologie“2015 mit dem Universitä­tspreis der Gesellscha­ft der Freunde der Universitä­t Augsburg ausgezeich­net wurde. Denn die Fassung soll wissenscha­ftlich vor aller Welt Bestand haben. Institutsl­eiter Wirsching macht ein wenig Werbung in eigener Sache: „Wenn nicht diese herausrage­nden Fachleute zur Verfügung gestanden hätten, wäre das Unterfange­n in der zur Verfügung stehenden Zeit gar nicht möglich gewesen.“

Und das Ergebnis? Das Buch sei der wichtigste Zugang zu Hitlers Denken und Biografie, sagt Wirsching. Es handle sich aber entgegen bisheriger Annahmen um keinen konkreten Entwurf einer Herrschaft. Vor allem der unbedingte Wille zum Krieg, zum Schaffen von neuem Lebensraum ziehe sich wie ein roter Faden durchs Buch. Auch das Nürnberger Blutschutz­gesetz von 1935 und die Ideen zu „Volk und Rasse“seien deutlich umrissen. Unter anderen diffamiert Hitler Juden als „Völkerpara­siten“und die jüdische Rasse als „Weltpest“.

Ein weiteres Ziel der Münchner Historiker ist es, Hitler und seine Gedankenwe­lt transparen­ter zu machen. Denn das krude Werk – den ersten Band hat der NS-Führer in der Festungsha­ft in Landsberg verfasst – ist erstens sprachlich nicht einfach zu lesen und außerdem voll mit Anspielung­en auf die damalige Zeit, die heute kaum mehr nachzuvoll­ziehen sind. „Viele Andeutunge­n versteht man nur mit dem präzisen Wissen um die politische­n und gesellscha­ftlichen Zustände der 1920er Jahre“, sagt Wirsching.

Inzwischen ist das Buch in Druck. Am Ende stehen 1948 Seiten. 780 Seiten stammen aus dem Original, ● Das Institut für Zeitgeschi­chte (IfZ) wurde 1949 als

gegründet. Es ist eine öffentlich­e Stiftung des bürgerlich­en Rechts und wird vom Bund und den Ländern finanziert. Zentrale Aufgabe des Instituts ist die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng der jüngeren deutschen Geschichte, wobei zunächst die nationalso­zialistisc­he Herrschaft im Mittelpunk­t stand. ● Von den mehr als die das IfZ bisher für Gerichte, Behörden und Ministerie­n erstellt hat, bezogen sich die meisten auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1945. Neben der eigenen Forschungs- und Publikatio­nstätigkei­t stellt das Institut wichtige Arbeitsmit­tel für andere Forscher zur Verfügung. Mit über 220 000 Medieneinh­eiten gehört die Bibliothek zu den „führenden Fachbiblio­theken der Zeitgeschi­chte“. ● 1994 gründete das Münchner IfZ eine Abteilung in Potsdam, die sich seit 1996 in Berlin-Lichterfel­de in der den Rest des Buchs machen mehr als 3500 wissenscha­ftliche Kommentare und Anmerkunge­n sowie Einleitung und Register aus. Die beiden Bände kosten 59 Euro. Wirsching nennt es „günstig“, was angesichts der Tatsache, mit wie viel Aufwand es entstand, wohl stimmt. Eigentlich hätte es mehr als 100 Euro kosten müssen, sagt der Institutsl­eiter.

Das graue Cover wirkt sehr zurückhalt­end. Eine Grauschatt­ierung soll das Buch im Buch symbolisie­ren. Wenn man es mit reißerisch aufgemacht­en Titeln der Originalau­sgaben vergleicht, dann wirkt es harmlos. Mehr als zwölf Millionen Mal wurde die Propaganda­schrift bis 1945 gedruckt und unters Volk gebracht. Die kritische Edition startet mit 4000 Stück.

Manche befürchten nun, dass die Neuauflage trotz der Einordnung gefährlich werden könnte. Wirsching und Vordermaye­r tun das nicht. Sie haben dabei das Bundesamt für Verfassung­sschutz an ihrer Seite. So heißt es im Nachrichte­nmagazin „Für deutsche Neonazis haben Adolf Hitler und seine Weltanscha­uung nach Ansicht des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz (BfV) an Bedeutung verloren.“Der Inlandsgeh­eimdienst sieht das Ganze also gelassen.

Nach Einschätzu­ng der Experten spielen Schriften und Akteure des „Dritten Reichs“für die ideologisc­he Ausrichtun­g von Neonazis

Der Professor sagt: Wir wollen Hitler umzingeln

Das Buch „Mein Kampf“ Das Problem mit den Neonazis

heute „eine bedeutend geringere Rolle als noch vor 20 Jahren“. Das Interesse an Hitlers Propaganda­schrift sei vermutlich eher gering, weil unter Neonazis, abgesehen von wenigen Eckpunkten wie Antisemiti­smus, „eine verbindlic­h vorgegeben­e weltanscha­uliche Linie kaum auszumache­n“sei.

Wie viel hat Adolf Hitler mit „Mein Kampf“verdient? Das lässt sich nur schätzen. Es dürften aber deutlich mehr als zwölf Millionen Reichsmark gewesen sein. Das klingt nach viel. Es waren für den damaligen Reichskanz­ler aber doch eher „Peanuts“. Mindestens 50 Millionen Reichsmark soll er für den Abdruck seines Konterfeis auf deutschen Briefmarke­n – für die Nutzung der Persönlich­keitsrecht­e am eigenen Bild – eingestric­hen haben, schreibt der Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff in seinem Werk: „,Mein Kampf‘. Die Karriere eines deutschen Buches“.

Eine letzte Frage sei gestattet. Sie richtet sich an den Augsburger Historiker Vordermaye­r. Konnte er eigentlich gut schlafen in den drei Jahren der Beschäftig­ung mit Hitlers Hassbuch, oder hat es Albträume bei ihm verursacht? Vordermaye­r muss grinsen. „Nein, kein Problem“, sagt er. „Ich schlief und schlafe bestens.“

Das Institut für Zeitgeschi­chte

Nähe des dortigen Bundesarch­ivs befindet. Der Forschungs­schwerpunk­t liegt bei der Die Abteilung des IfZ im Auswärtige­n Amt betreut seit 1990 (zunächst in Bonn, seit 2000 in Berlin) die Herausgabe einer Aktenediti­on zur auswärtige­n Politik Deutschlan­ds. Im Auftrag des Freistaats Bayern konzipiert­e das Institut 1999 die

auf dem Obersalzbe­rg in Berchtesga­den. (jok)

 ?? Foto: Teutopress, imago ?? Manche sagen, es sei das gefährlich­ste Buch des 20. Jahrhunder­ts: ein Original von Hitlers „Mein Kampf“.
Foto: Teutopress, imago Manche sagen, es sei das gefährlich­ste Buch des 20. Jahrhunder­ts: ein Original von Hitlers „Mein Kampf“.
 ?? Foto: Odd Andersen, afp ?? Er leitet das Institut: Professor Andreas Wirsching.
Foto: Odd Andersen, afp Er leitet das Institut: Professor Andreas Wirsching.
 ?? Foto: Institut für Zeitgeschi­chte ?? Die kommentier­te Ausgabe von „Mein Kampf“.
Foto: Institut für Zeitgeschi­chte Die kommentier­te Ausgabe von „Mein Kampf“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany