„Was kränkt, macht krank“
In seinem neuen Buch erklärt Gerichtspsychiater Reinhard Haller, welche Rolle seelische Verletzungen in unserem Leben spielen und welche Folgen sie haben können – bis hin zu Krieg, Amoklauf und Terrorismus
Was unterscheidet die Kränkung von einer „normalen“Enttäuschung?
Die Enttäuschung ist eher „akut“, die Kränkung hat einen nachhaltigen Effekt – Kränkungen werden verdrängt und entfalten dadurch ihre destruktive Wirkung. Außerdem trifft eine Kränkung uns an sensiblen Stellen. Das müssen nicht unbedingt wunde Punkte sein, es können auch Werte sein, die mir wichtig sind. Die Enttäuschung ist ein Element der Kränkung.
Kränkungen sind universell verbreitet, im partnerschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Umfeld. Kränkung hat zu tun mit Liebesentzug und Zurückweisung. Das Spektrum der Kränkungen ist weit – es reicht von „Jemanden-schief-Anschauen“bis hin zu beleidigenden Äußerungen. Eine der wichtigsten Kränkungen ist das Mobbing. Es spielt im Berufsleben eine immer bedeutendere Rolle. Und auch in Partnerschaften, bei Trennungen, ist der Trennungsprozess oft gekennzeichnet von einer ganzen Reihe gegenseitiger Kränkungen.
Was kränkt, macht krank, das hat Hildegard von Bingen schon gesagt. Psychosomatische Krankheiten wie Magenbeschwerden, Rückenschmerzen, Druck auf der Brust oder Migräneanfälle sind oftmals auf Kränkungen zurückzuführen. Auch Suchterkrankungen können eine unbearbeitete Kränkung als Ursache haben. Nicht zuletzt sind Burn-out und Verbitterungszustände eine typische Folge von Gekränktheit. Kränkungen können bis hin zu schweren Auseinandersetzungen und Kriegen führen. Bei Schul-Amokläufen sind Kränkun- gen eine zentrale Ursache, während es sonst dazu nur wenige einheitliche psychische Befunde gibt. Auch die Taten von Terroristen sind teilweise Kränkungsreaktionen, weil sie sich – Beispiel – in ihren Werten angegriffen fühlen.
Eine Kränkung ist nicht gleich wieder vergessen. Was macht sie mit uns?
Eine Kränkung ist immer ein Angriff auf unser Ich, auf das Selbst und die eigenen Werte. Kommt es deshalb akut zu Wut und Zorn, ist das psychisch gesund, man befreit sich dadurch. Wenn das aber nicht gelingt, man das Ganze hinunterschluckt und es chronisch wird – das ist dann die Kränkung.
Wird das Thema angesichts seiner Bedeutung vielfach noch unterschätzt?
Ja, meines Erachtens sehr stark. Über das Thema spricht keiner, es wird tabuisiert und verdrängt, sogar in der Psychotherapie. In meiner Ausbildung zum Psychiater habe ich nie etwas über Kränkungen gehört! Dabei kann ich heute bei meinen eigenen Patienten fast immer feststellen, dass schwere, nicht verarbeitete Kränkungen vorhanden sind. Und wenn man mal die Sprache junger Menschen ansieht, so ist die sehr cool, man gibt nach außen das Pokerface nach dem Motto „Nichts kann mich berühren“. Aber die Realität ist eine ganz andere. Junge Leute sind extrem verletzlich und liebesbedürftig, und dieser Zwiespalt zwischen Coolness und Verletzlichkeit ist der Boden, auf dem Kränkungen gedeihen können.
Sind wir gut darauf vorbereitet, mit den Kränkungen, die wir im Laufe des Lebens erleiden, umzugehen?
Nein, ich fürchte, das ist in vielen Fällen nicht so – eben weil man das Thema nicht anspricht. Wahrscheinlich werden auch in der Erziehung Fehler gemacht, was die Grenze zwischen Fordern und Verwöhnen angeht. Wird ein Mensch übermäßig verwöhnt, bekommt er eine sehr dünne Haut und wird extrem kränkbar. Aber das passiert auch, wenn ich ihm zu wenig Zuwendung gebe. Diese schwierige Gratwanderung in der Erziehung müssen wir versuchen zu gestalten.
Wenn man auf die Seite des Kränkenden geht: Was sind überhaupt die Motive, einen anderen zu kränken? Woher kommt der Wunsch, das zu tun? Ist es einfach nur Gedankenlosigkeit?
Manchmal ist es einfach nur Gedankenlosigkeit, manchmal aber auch ein ganz bewusstes Vorgehen, der Wille, andere zu demütigen und zu beschädigen. Mag sein, dass gerade gekränkte Wesen die Rollen vertauschen und andere kränken, das ist ein psychischer Reparaturmechanismus. Wir haben aber alle ein starkes Aggressionspotenzial, als eine Art Vitalkraft, die aber nicht in Kränkungen münden muss, sondern Professor Reinhard Haller ist Psychiater, Neurologe und Chefarzt einer Klinik im österreichischen Frastanz. Er gilt als international renommierter Kriminalpsychologe und ist Autor mehrerer Bücher, wie „Die Seele des Verbrechers“, „Das ganz normale Böse“und „Die Narzissmusfalle“. auch in Leistungen umgewandelt werden kann. Auch der Machtkampf in der Gesellschaft, der Vergleich, wer der Stärkere ist, bringt viele Kränkungen mit sich. Ein dritter Grund für Kränkungen ist, dass manche Menschen sich nicht in andere einfühlen können.
In Ihrem Buch schreiben Sie hierzu über Narzissten und Hochsensible ...
Ja, unsere Gesellschaft wird generell kränkbarer und auch kränkender, weil der Narzissmus, also die Ichbezogenheit, seit der Jahrtausendwende stark zunimmt. Wenn der Narzissmus zunimmt, nimmt auch die Kränkbarkeit zu. Denn durch ihre starke Ichbezogenheit kränken Narzissten häufig andere und sind dabei selbst extrem kränkbar. Durch die Reizüberflutung und das Multitasking in der heutigen Zeit steigt aber auch die Zahl der Hochsensiblen, die empfindlicher, nervöser, weniger belastbar und kränkbarer sind als andere. Allerdings trifft die Hochsensibilität auch für den Umgang mit anderen zu, der Hochsensible ist in dieser Hinsicht sehr rücksichtsvoll. Hochsensible sind selbst zwar auch sehr stark kränkbar, aber anders als die Narzissten kränken sie andere nicht.
Ja, wenn man Kränkungen positiv betrachtet, kann man viel an Selbsterkenntnis und auch Fremderkenntnis daraus ableiten. Ich lerne nicht nur, wo meine eigenen empfindlichen Stellen sind, sondern auch eine neue Seite anderer Menschen kennen. Man sagt ja oft: „Dem hätte ich das nie zugetraut!“Indem ich auf meine eigenen Kränkungen schaue und die Kränkungsgrenze anderer abschätzen muss, steigt mein Empathievermögen.
Wie kann man Kränkungen entmachten, sie überwinden?
Indem ich eine andere Einstellung zu ihnen entwickele. Indem ich vielleicht sage, die Kränkung zeigt mir, wo meine eigenen Probleme liegen, indem ich versuche zu verstehen, was mir die Kränkung sagen will. Oder indem ich die Kränkung umwandle in kompensatorische Leistungen kultureller Natur. Viele große Künstler sind extrem kränkbar, und sie sind am besten, wenn sie eine Kränkung verarbeiten müssen. Aber auch in der Gelassenheit, im Loslassen liegt eine große Chance. Die edelste Form der Überwindung wäre es, zu verzeihen – das hilft nicht nur dem anderen, sondern auch mir selbst.
Wodurch wurde denn Ihr eigenes Interesse an dem Thema Kränkungen geweckt?
Dafür gibt es sicher lebensgeschichtliche Faktoren, ich kam aus einem Bergtal ins Internat und wurde dort als „kleines Hinterwäldlerkind“wegen meiner Sprache furchbar gehänselt. Später habe ich in meinem Beruf als Gerichtspsychiater erkannt, dass viele Verbrecher extrem kränkbare Menschen sind. Mit meinem Buch möchte ich dafür sensibilisieren, wie wichtig es ist, auf meine vielleicht gar nicht bewussten Verletzungen zu achten, aber auch auf die Kränkungsgrenze anderer.
Zur Person
Reinhard Haller: Die Macht der Kränkung.