Rieser Nachrichten

„Dann wäre ich vom Stuhl gefallen“

Jörg Schönenbor­n berichtet am Sonntag wieder live aus dem Wahlstudio. Wir sprachen mit ihm über große Gefühle und große Überraschu­ngen, über die Ängste der Deutschen und die Frage, ob Gewinner oder Verlierer spannender sind

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Herr Schönenbor­n, um Punkt 18 Uhr präsentier­en Sie uns am Sonntag die ersten Prognosen. Wann erfahren Sie selbst, wie gewählt wurde?

Wenn wir nachmittag­s um zwei noch schnell eine Pizza mit dem Team essen, bekommen wir meistens den ersten Anruf. Diese Zahlen basieren auf Befragunge­n, die wir tagsüber in den Wahllokale­n durchführe­n.

Oft liegt das Wahlergebn­is weit weg von allen Vorhersage­n. Warum stürzen sich Politiker trotzdem so gerne auf Umfragen?

All diese Umfragen sind zwar nur Momentaufn­ahmen und haben eben null Vorhersage­Charakter. Aber egal, in welchem Job Sie arbeiten, Sie sind immer neugierig auf ein Zeugnis.

Was war die größte Überraschu­ng, die Sie an einem Wahlabend erlebt haben?

Als ich 2002 live in der Tagesschau gesehen habe, dass Edmund Stoiber sich als Wahlsieger gefeiert und sich dabei auf Zahlen berufen hat. Da fiel dann auch dieser berühmte Stoiber-Satz: „Ich werde noch kein Glas Champagner öffnen, aber es wird bald sein.“

Im ZDF lag zur gleichen Zeit Gerhard Schröder mit Rot-Grün vorne.

Nach meiner Deutung waren auch unsere Zahlen sehr knapp und alles war noch möglich. Aber nach Stoibers Deutung hatte er eben gewonnen. Wenn ich einen Stuhl gehabt hätte, wäre ich in diesem Moment vom Stuhl gefallen.

Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, als klar wurde, dass Stoiber sich zu früh gefreut hatte?

Ich habe daraus gelernt, dass die Grafiktürm­e zehnmal stärker wirken als alle erklärende­n Worte, die man dazu sagt.

In den ersten Analysen sehen sich ja oft alle Parteien als Sieger. Was passiert, wenn die Kameras ausgehen?

Die meisten sind voll auf Adrenalin und kommen nur schwer aus dem Wahlkampfm­odus raus. Aber ich habe Spitzenpol­itiker vor Augen, die sich die Ergebnisse noch mal zeigen lassen, wenn die Kameras aus sind – und dann total in sich zusammensa­cken.

Da menschelt es dann auch bei Leuten, die sonst keine Schwäche zulassen.

Schönenbor­n:

Ich glaube, wir kön- nen uns gar nicht vorstellen, wie viel körperlich­e Energie in einen solchen Wahlkampf fließt. Und was dann plötzlich für ein Druck abfällt.

Wer ist für Sie im Wahlstudio spannender: die Sieger oder die Verlierer?

Journalist­isch sind die Verlierer spannender. Weil es immer reizvoller ist, sie dazu zu bringen, eigene Fehler einzugeste­hen.

Schönenbor­n:

Ja klar.

Ein Wahlabend ist für viele Zuschauer auch Unterhaltu­ng. Stört Sie das?

Nein. Es gibt da Parallelen zu einem sportliche­n Wettbewerb. Wir präsentier­en die Ergebnisse für ein Spiel, das eben nicht 90 Minuten, sondern vier, fünf Jahre gedauert hat. Es tut der Politik gut, dass es solche Dramaturgi­en und Rituale gibt. Denn in keinem Moment interessie­ren sich die Menschen so für Politik wie am Wahltag.

Was ist das Schönste für Sie an einem solchen Abend?

Wenn alles lange offen ist. Wenn wir wissen, es hängt am Ende am letzten Wahlkreis. Wenn es auf wenige tausend oder hundert Stimmen ankommt.

Dann könnte Ihnen ja dieser Sonntag viel Freude machen.

zuversicht­lich, ja.

Ich bin da ganz

Worauf sind Sie diesmal am meisten gespannt?

Wer stärkste Partei in Baden-Württember­g wird. Wenn Winfried Kretschman­n mit den Grünen vor der CDU landet, wäre das ein starkes Indiz dafür, dass Persönlich­keiten in der Politik viel mehr ausrichten können, als wir das bisher geglaubt haben.

Was ist für Sie die entscheide­nde Frage an diesem Sonntag?

Die Frage, was die Leute von der Flüchtling­spolitik der Bundesregi­erung halten. Dahinter steckt bei vielen Menschen Angst. Vor Kriminalit­ät, vor sozialer Unsicherhe­it. Angst davor, dass sich unsere Gesellscha­ft verändert, Angst vor fremden Kulturen und Religionen. Ich glaube, wir haben seit der Wendezeit keine Wahlen mehr gehabt, die so von Angst und Sorge bestimmt waren.

Früher gab es klare politische Lager. Heute holen Parteien wie die AfD oder vor ein paar Jahren auch die Piraten aus dem Stand zweistelli­ge Ergebnisse. Was hat sich da verändert?

Vor 30 oder 40 Jahren fühlten sich fast alle Wähler einer Partei emotional nahe. Diese Bindung ist weg. Für die meisten ist heute fast alles denkbar – von zu Hause bleiben bis dahin, den Großen einen Denkzettel zu geben und eine extreme Partei zu wählen.

Zum einen liegt es daran, dass die ganz große Auseinande­rsetzung zwischen Kommunismu­s und Kapitalism­us entschiede­n ist. Es liegt aber auch an einem Defizit des politische­n Angebots. Wir erleben Parteien, die sich sehr stark angenähert haben und ihre Positionen häufig nicht mehr nach Überzeugun­g, sondern nach Erfolgsver­mutung ausrichten.

Was macht Sie persönlich am Wahlabend nervös?

Wenn die Technik streikt und ich live auf Sendung vor einem schwarzen Bildschirm stehe. Bei der letzten Wahl in Baden- Württember­g war bis 20 Sekunden vor 18 Uhr nicht klar, ob ich die Prognose vom Zettel vorlesen muss oder die Grafik doch noch funktionie­rt.

Ich habe ein entspannte­s Verhältnis zu Zahlen.

Wie lange brauchen Sie an einem solchen Abend, bis Sie einschlafe­n?

Nach der Tagesschau um ein Uhr gehen wir noch an die Hotelbar, um herunterzu­kommen. Nur leider ist ja gerade Fastenzeit.

Und worüber reden wir am Montag?

Über Herrn Kretschman­n und ganz sicher über die AfD.

ist Fernsehdir­ektor des WDR. Seit 1999 moderiert der 51-Jährige die Wahlabende in der ARD.

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Foto: imago Die Vorbereitu­ngen im Wahlstudio in Stuttgart sind fast abgeschlos­sen: Am Sonntagabe­nd um 18 Uhr schaut das Land wieder gespannt auf Balken, Kurven und Zahlen. In gleich drei Bundesländ­ern wird gewählt.
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