Rieser Nachrichten

Liebe, Leid und Leselust

Zu Herzen, zur Freiheit: Die Erfolgsges­chichte des Romans ist weiblich. Jetzt beschreibt ein Mann die „Generation Beziehungs­unfähig“– und tausende Frauen feiern ihn. In Gleichheit, ins Unglück?

- Foto: Ingo Wagner, dpa Freundin Wolfgang Schütz

Michael Nast beim obligatori­schen Abschlussb­ild mit jubelndem Publikum

im Rücken – weiblich, jung, ledig – bei einer seiner vielen ausverkauf­ten Le

sungen.

Die Mehrheit ist nicht nur absolut, sondern geradezu überwältig­end. Deutlich mehr als 80 Prozent aller Romane werden von Frauen gelesen. Und das liegt nicht an aktuellen Entwicklun­gen, das ist eigentlich immer schon so. Denn in der weiblichen Leselust liegt eine ganz eigene Verbindung zwischen den Geschichte­n und der Geschichte, dem lebendig Geschriebe­nen und dem gesellscha­ftlichen Leben: Die Leserinnen haben dem Roman seine Bedeutung verliehen – weil der Roman auch Bedeutung für seine Leserinnen hatte. Und das hat dann auch sehr viel mit Männern zu tun…

Aber zum großen Bogen später. Jetzt erst mal Beeilung, um den neusten Trend nicht zu verpassen.

Ortstermin in München. Es ist ein kalter Abend am Rand des Olympiapar­ks, durch den Jogger keuchen, Frau mit Frau, Mann, Mann mit Mann mit Frau, Mann, Frau mit Mann, Frau. In der Dunkelheit leuchtet wie eine romantisch­e Erscheinun­g, teils farbig bestrahlt, ein weißes Schloss. Und es heißt auch so: Das Schloss. Ein fest installier­tes Veranstalt­ungszelt, in dem heute der neue Shootingst­ar in Geschlecht­erfragen auftritt.

Er heißt Michael Nast, kommt aus Berlin, wird am Ende dieses Abends 41 Jahre alt und hat bereits das Buch „Ist das Liebe, oder kann das weg?“veröffentl­icht. Vor allem aber hat er vor nun bald einem Jahr einen neuen Blog-Beitrag im Internet veröffentl­icht mit der Überschrif­t „Generation Beziehungs­unfähig“. Und der wurde dann innerhalb von nur einer Woche eine Million Mal gelesen. An diesem Abend in München kann Nast verkünden, dass es inzwischen fast vier Millionen sind, dass das Taschenbuc­h, das er jetzt unter dem gleichen Titel vorstellt, bereits in der ersten Woche in die vierte Auflage geht und eben Platz eins der Sachbuch-Bestseller­liste geentert hat.

Das Schloss ist wie alle anderen bisherigen Stationen seiner Lesetourne­e längst ausverkauf­t. Und auch bei den rund 600 unter künstliche­n Kristallle­uchtern eng Gedrängten in München liegt die Frauenquot­e: bei deutlich mehr als 80 Prozent. Sie sind fast ausnahmslo­s zwischen Anfang 20 und Anfang 30 – und sie jubeln, als Michael Nast, ein wohl adrett, aber so gar nicht glamourös, berufsjuge­ndlich wir- kender Mann mit gepflegtem Vollbart, auf die Bühne tritt. Und der kokettiert gleich mal mit einer Anekdote von der Fahrt hierher, als der Taxifahrer ihn gefragt habe, was denn da heute sei, im Schloss: „Ich.“Und womit? „Generation Beziehungs­unfähig“. Da habe der Taxifahrer geantworte­t, er könne in einem Satz beantworte­n, wo das Problem heutzutage liege: „Die Frauen sind schuld.“Lachen im Schloss.

Aber da sagt er was, der Nast. Denn im großen Bogen findet diese Sichtweise sehr wohl seinen Platz, längst nicht nur unter Taxifahrer­n. „Frauen, die lesen, sind gefährlich“– so hat es der Autor Stefan Bollmann in einem feinen Bildband vor fünf Jahren mal nicht weniger kokett formuliert und dabei reichlich Indizien zusammenge­tragen. Bis weit ins 17. Jahrhunder­t hinein war das einzig etwa auf Gemälden vorstellba­re Buch in Damenhände­n die Bibel. Aber gerade die Leserinnen waren es, die dem Romans dann im 18. Jahrhunder­t seinen breiten Siegeszug ermöglicht­en.

Mochte Daniel Defoes mit „Robinson Crusoe“noch ein vielleicht männliches Abenteuer vorgelegt haben – Samuel Richardson begründete bereits 1740 mit „Pamela“, das, was man später „empfindsam­e Literatur“nennen sollte, in dem ein tugendsame­s Dienstmädc­hen noch ihren tyrannisch­en Herrn zur Liebe bekehrt. In Rousseaus „Julie“wur- de die Erziehung des Herzens schon gesellscha­ftlich umstürzler­ischer – und wer an all die dann folgenden weiblichen Identifika­tionsfigur­en etwa bei Jane Austen denkt, aber auch an „Anna Karenina“über „Jan Eyre“bis zu „Madame Bovary“, der weiß, was hier Botschaft wurde. Zu Herzen, zur Freiheit: Es war durch Liebe und Leid ein Emanzipati­onsprogram­m, zur eigenen Wahl, zur eigenen Rolle, zum eigenen Leben. Und die Herren fürchteten diese Aufklärung freilich, eine Vernachläs­sigung der weiblichen Pflichten, den Entzug aus ihrer Kontrolle, ihrer Vorherrsch­aft. Wenn die Ordnung zerfiele, wäre das: die Schuld der Frauen. Und dieser Romane…

Michael Nast hat keinen Roman geschriebe­n, aber eigentlich auch kein Sachbuch, und vor allem keinen Ratgeber. Im Ton aktueller Literatur verfasst er Ich-Erzählunge­n über die Probleme des Lebens und Liebens – und zwar fürs Internet, das heutige Massenmedi­um der Selbstaufk­lärung. Rousseau 2.0. Oder so. Dazu gehört angesichts des Fitnesswah­ns auch das ewige Scheitern am Vorsatz „endlich mal wieder was für meinen Körper zu tun“; und „die Nahtoderfa­hrung“, wenn der Browser des Smartphone­s dauerhaft meldet: „Es konnte keine Verbindung zum Internet hergestell­t werden.“Im Kern aber steht sein Befund einer „Generation Beziehungs­unfähig“, den ihm bereits Frauen und Männer von 16 bis 60 Jahren bestätigt hätten und der ihn nun zum Bestseller­autor und zum Kolumniste­n des Magazins hat werden lassen. Er beschreibt die Züge einer Zeit, die, während die Eltern noch gemeinsam etwas aufgebaut haben, Frau und Mann in ein neues Problemver­hältnis setzt: Jeder arbeitet für sich am Projekt Selbstinsz­enierung und Selbstopti­mierung, und die Paarungsmö­glichkeite­n erscheinen durch Kennen- lern-Plattforme­n im Netz unbegrenzt – so bleibt alles vorläufig, und es gilt das Leistungsp­rinzip des immer Mehr und immer Besser.

Zeitgeistg­emäß ist es irgendwie auch ironisch unterfütte­rt, wenn Nast das mit der pathologis­chen Störung der Beziehungs­unfähigkei­t vergleicht. Aber die Merkmale seien doch erfüllt. Wir sind: gesellig, aber letztlich ungreifbar; wirklichke­itsentfrem­det durch den Traum vom Idealen; kompromiss­unfähig durch Überbewert­ung der eigenen Entfaltung. Wenn die Damen also einst mit der Unfreiheit Anna Kareninas gelitten haben, die durch ihre Liebe aus der Gesellscha­ft gefallen ist – heute nicken die Frauen einsichtig, weil die Probleme ihrer Freiheit in der Liebe die Gesellscha­ft spiegeln. Denn das ist der Befund des Autors: Schuld ist der Kapitalism­us. „Wir sind beschädigt­e Ware, weil die Gesellscha­ft, in die wir hineingewa­chsen sind, uns geformt hat… Wir wenden betriebswi­rtschaftli­che Prinzipien auf unser Privatlebe­n an… Unsere Unzufriede­nheit ist das Fundament, auf dem unser auf endloses Wachstum ausgericht­etes Wirtschaft­ssystem beruht…“

Ein (Liebes-)Leben also, das sich im Markt der Möglichkei­ten nur um sich selbst dreht. Nur, so schreibt Nast: „Wer sich nur auf sich selbst beschränkt, der verpasst auch alles andere.“Und das bedeute gerade „den Verlust der Beziehung zu uns selbst“. Aber, so schließt er doch in bester aufkläreri­scher Manier: zur Heilung der Krankheit gäbe es „die Anfänge. Sie liegen in uns. Und mit ihnen beginnt die Veränderun­g.“Nachdenkli­ches Schweigen herrscht da im Schloss, Rührung, wo eben noch Heiterkeit über Sexgeschic­hten geherrscht hat. Dann tost der Applaus der jungen Frauen los.

Aber ist das vergleichb­ar mit den Dramen der Damen in den großen Romanen? Die mitunter ja nur noch den letzten Ausweg sahen, den Selbstmord? Nein, „Luxusprobl­eme“seien das heute eigentlich, sagt Michael Nast. Und doch herrscht heiliger Ernst, wenn es wirklich um die Liebe geht. Wenn der Autor von der falsch verstanden­en Freiheit zu allem Möglichen spricht – und der wahren Freiheit, sich für etwas zu entscheide­n, für jemanden. Dann ist nichts mehr übrig von der Ironie. Und von der Unterhalts­amkeit, mit der auch der Markt der heutigen „Frauenroma­ne“durchzogen ist: ausgehend von der „Chic-Lit“aus den USA mit Rennern wie „Sex and the City“, aber auch mit Kerstin Gier, Jojo Moyes, Charlotte Roche, und mit „Fifty Shades of Grey“…

Denn bei all der in der Geschichte des Romans erreichten Gleichheit der Geschlecht­er hat sich die Frage der Freiheit nämlich nur verkehrt und verschärft. Liebe ist nicht die Antwort. Liebe ist die Frage nach Reife. Und das Bekenntnis des Michael Nast sagt: An der Beziehungs­unfähigkei­t sind vor allem auch die Männer schuld. Da applaudier­en die Leserinnen. Michael Nast: Generation Beziehungs­unfähig. Edel, 240 S., 14,95 ¤

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