Rieser Nachrichten

Deutschlan­d als Kammerspie­l

Ein wunderbare­s Lehrstück über unsere Gesellscha­ft von unserer wohl klügsten Autorin

- Bayerische­n Fernsehen Wolfgang Schütz

Luchterhan­d, 640 Seiten, 24,99 Euro

Wenn Sie Deutschlan­d besser verstehen wollen: Lesen Sie dieses Buch! Und wenn Sie sich über die Facetten des typisch Deutschen amüsieren wollen: Lesen Sie es erst recht! Und wenn Sie über die Verzahnung von tiefster Provinz und globaler Wirtschaft nachdenken wollen: Lesen Sie es! Und ob Sie nun moderne Soaps lieben, den komplex ausufernde­n Geschichte­n aktueller TV-Serien verfallen sind oder sich in der Übersichtl­ichkeit von „Dahoam is Dahoam“im aufgehoben fühlen: Lesen Sie dieses Buch! Denn der Autorin Juli Zeh ist mit „Unterleute­n“ein so ernstes wie vergnüglic­hes, ein so kritisches wie menschenfr­eundliches Porträt des Lebens in Deutschlan­d gelungen – mit kaum Schwächen. Chapeau!

Im Konkreten erzählt sie von einem Dorf irgendwo in Brandenbur­g. Dass es „Unterleute­n“heißt und damit natürlich auch wortspiele­risch das Leben „unter Leuten“mitklingt, ist eine der Launigkeit­en, die nicht unbedingt überzeugen müssen. Umso überzeugen­der ist, was sie hier zusammenfü­hrt und wie sie das tut. „Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apothe- ke, keine Schule, keinen Bahnhof – nicht einmal eine Kanalisati­on.“Es ist also ein abgehängte­s Kaff, perfekte Szenerie für ein Kammerspie­l. 122 Häuser, die meisten Familien samt ihrer Freundscha­ften und Feindselig­keiten alteingese­ssen. Dazu aber kommen zwei aus der Metropole Berlin hierher ins alternativ­e Leben, ins Off geflüchtet­e Paare. Es gibt eine alte Wirtschaft, wo die Dorfproble­me verhandelt werden, wo die Stammtisch­e aber auch langsam durchs Wegsterben ausdünnen. Und es gibt einen gerade noch leidlich funktionie­renden Landwirtsc­haftsbetri­eb, von dem die Menschen hier hauptsächl­ich leben. In diesem Herzstück des Dorfs, der „Ökologica“, aber lebt auch die unverdaute Geschichte fort – Neid und Streitigke­iten, ausgelöst durch die Verstaatli­chung zu DDR-Zeiten, fortgesetz­t in der Vergesells­chaftung nach der Wende.

Und jetzt eskaliert alles in Unterleute­n. Denn während in der Folge der Finanzkris­e die Bodenpreis­e steigen und Wohlhabend­e wie ein Unternehme­r aus Ingolstadt gerade in potenziell­en Baugrund als Wertanlage investiere­n, werden plötzlich die Pläne zum Bau eines Windradpar­ks in unmittelba­rer Dorfnähe be- kannt. Das bedeutet: viel Geld! Aber für wen? Im Dorf brechen die alten Feindselig­keiten mit neuer Wucht auf. Und neue ideologisc­he Streitigke­iten kommen hinzu. Denn von den frisch zugezogene­n Berlinern ist ein Mann glühender Umweltakti­vist, beruflich engagiert im Vogelschut­z der hier lebenden Kampfläufe­r, die er durch die Windräder bedroht sieht. Und eine Frau, strategisc­h geschult von einem Erfolgstra­inerguru, will sich ihr persönlich­es Idyll nicht zerstören lassen, vor allem wegen ihres geliebten Pferdes. Deren Mann wiederum ist der Einzige, der bei den nun tosenden Machtkämpf­en und Intrigen erst mal völlig außen vor bleibt, weil er sich eigentlich nur für digitale Welten interessie­rt – und ihm die Wirklichke­it höchstens als Vorlage zur lukrativen Weiterentw­icklung eines Games taugt…

Das ist schon eine ganze Menge und noch längst nicht alles. Und vor löst sie bei „Unterleute­n“als großem Gesellscha­ftsroman im Kammerspie­lformat nun. Die anderen Bücher wirkten wie reine Kopfgeburt­en, zu klug, um noch Platz zu lassen für das, womit Zeh in ihren Anfängen als Autorin mit „Adler und Engel“so sehr überzeugt hatte: ihrer erzähleris­chen Kraft. War es also nur noch eine Frage der Zeit, bis die 41-Jährige restlos in der Rolle als klügste deutsche Publizisti­n ihrer Generation aufgehen würde – eine Sach- und Debattenau­torin mit all den engagierte­n Essays und starken Auftritten sogar in Fernsehdis­kussionen?

Nein, sie ist noch klüger. Nachdem Zeh im letzten Roman, „Nullzeit“, bei der versuchten Rückkehr zu ihrer Erzählkraf­t noch an zu schablonen­haften Charaktere­n gescheiter­t war, löst sie das Übermaß an Konstrukti­on nun durch: die erzähleris­che Konstrukti­on selbst. In „Unterleute­n“schilderte sie die Zuspitzung des dörflichen Mit- und Gegeneinan­ders bis in die Verdichtun­g zum Krimi aus stetig von Kapitel zu Kapitel wechselnde­n Perspektiv­en. Statt der analytisch­en Schärfe ihrer Erzählstim­me rückt dadurch ihr Blick auf die Menschen wieder in den Kern. Und sie blickt zwar unerbittli­ch auf deren Schwächen, aber auch mitfühlend auf deren Sehnsüchte und Ängste.

Ihre Geschichte hat fast nur Verlierer – in ihrem Schreiben aber ist es ein Sieg des Menschen. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Geschichte selbst sich spürbar aus dem eigenen Erleben speist. Juli Zeh, in Bonn geboren, inzwischen Ehefrau und Mutter, wohnte lange in der Großstadt Leipzig – seit 2007 aber lebt sie ein Aussteiger­leben, auf einem Hof in der brandenbur­gischen Provinz…

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