Deutschland als Kammerspiel
Ein wunderbares Lehrstück über unsere Gesellschaft von unserer wohl klügsten Autorin
Luchterhand, 640 Seiten, 24,99 Euro
Wenn Sie Deutschland besser verstehen wollen: Lesen Sie dieses Buch! Und wenn Sie sich über die Facetten des typisch Deutschen amüsieren wollen: Lesen Sie es erst recht! Und wenn Sie über die Verzahnung von tiefster Provinz und globaler Wirtschaft nachdenken wollen: Lesen Sie es! Und ob Sie nun moderne Soaps lieben, den komplex ausufernden Geschichten aktueller TV-Serien verfallen sind oder sich in der Übersichtlichkeit von „Dahoam is Dahoam“im aufgehoben fühlen: Lesen Sie dieses Buch! Denn der Autorin Juli Zeh ist mit „Unterleuten“ein so ernstes wie vergnügliches, ein so kritisches wie menschenfreundliches Porträt des Lebens in Deutschland gelungen – mit kaum Schwächen. Chapeau!
Im Konkreten erzählt sie von einem Dorf irgendwo in Brandenburg. Dass es „Unterleuten“heißt und damit natürlich auch wortspielerisch das Leben „unter Leuten“mitklingt, ist eine der Launigkeiten, die nicht unbedingt überzeugen müssen. Umso überzeugender ist, was sie hier zusammenführt und wie sie das tut. „Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apothe- ke, keine Schule, keinen Bahnhof – nicht einmal eine Kanalisation.“Es ist also ein abgehängtes Kaff, perfekte Szenerie für ein Kammerspiel. 122 Häuser, die meisten Familien samt ihrer Freundschaften und Feindseligkeiten alteingesessen. Dazu aber kommen zwei aus der Metropole Berlin hierher ins alternative Leben, ins Off geflüchtete Paare. Es gibt eine alte Wirtschaft, wo die Dorfprobleme verhandelt werden, wo die Stammtische aber auch langsam durchs Wegsterben ausdünnen. Und es gibt einen gerade noch leidlich funktionierenden Landwirtschaftsbetrieb, von dem die Menschen hier hauptsächlich leben. In diesem Herzstück des Dorfs, der „Ökologica“, aber lebt auch die unverdaute Geschichte fort – Neid und Streitigkeiten, ausgelöst durch die Verstaatlichung zu DDR-Zeiten, fortgesetzt in der Vergesellschaftung nach der Wende.
Und jetzt eskaliert alles in Unterleuten. Denn während in der Folge der Finanzkrise die Bodenpreise steigen und Wohlhabende wie ein Unternehmer aus Ingolstadt gerade in potenziellen Baugrund als Wertanlage investieren, werden plötzlich die Pläne zum Bau eines Windradparks in unmittelbarer Dorfnähe be- kannt. Das bedeutet: viel Geld! Aber für wen? Im Dorf brechen die alten Feindseligkeiten mit neuer Wucht auf. Und neue ideologische Streitigkeiten kommen hinzu. Denn von den frisch zugezogenen Berlinern ist ein Mann glühender Umweltaktivist, beruflich engagiert im Vogelschutz der hier lebenden Kampfläufer, die er durch die Windräder bedroht sieht. Und eine Frau, strategisch geschult von einem Erfolgstrainerguru, will sich ihr persönliches Idyll nicht zerstören lassen, vor allem wegen ihres geliebten Pferdes. Deren Mann wiederum ist der Einzige, der bei den nun tosenden Machtkämpfen und Intrigen erst mal völlig außen vor bleibt, weil er sich eigentlich nur für digitale Welten interessiert – und ihm die Wirklichkeit höchstens als Vorlage zur lukrativen Weiterentwicklung eines Games taugt…
Das ist schon eine ganze Menge und noch längst nicht alles. Und vor löst sie bei „Unterleuten“als großem Gesellschaftsroman im Kammerspielformat nun. Die anderen Bücher wirkten wie reine Kopfgeburten, zu klug, um noch Platz zu lassen für das, womit Zeh in ihren Anfängen als Autorin mit „Adler und Engel“so sehr überzeugt hatte: ihrer erzählerischen Kraft. War es also nur noch eine Frage der Zeit, bis die 41-Jährige restlos in der Rolle als klügste deutsche Publizistin ihrer Generation aufgehen würde – eine Sach- und Debattenautorin mit all den engagierten Essays und starken Auftritten sogar in Fernsehdiskussionen?
Nein, sie ist noch klüger. Nachdem Zeh im letzten Roman, „Nullzeit“, bei der versuchten Rückkehr zu ihrer Erzählkraft noch an zu schablonenhaften Charakteren gescheitert war, löst sie das Übermaß an Konstruktion nun durch: die erzählerische Konstruktion selbst. In „Unterleuten“schilderte sie die Zuspitzung des dörflichen Mit- und Gegeneinanders bis in die Verdichtung zum Krimi aus stetig von Kapitel zu Kapitel wechselnden Perspektiven. Statt der analytischen Schärfe ihrer Erzählstimme rückt dadurch ihr Blick auf die Menschen wieder in den Kern. Und sie blickt zwar unerbittlich auf deren Schwächen, aber auch mitfühlend auf deren Sehnsüchte und Ängste.
Ihre Geschichte hat fast nur Verlierer – in ihrem Schreiben aber ist es ein Sieg des Menschen. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Geschichte selbst sich spürbar aus dem eigenen Erleben speist. Juli Zeh, in Bonn geboren, inzwischen Ehefrau und Mutter, wohnte lange in der Großstadt Leipzig – seit 2007 aber lebt sie ein Aussteigerleben, auf einem Hof in der brandenburgischen Provinz…