Frau Schulz muss zuhören
Ein Roman über einen Flüchtling, in dem Deutsche nichts zu sagen haben
Hanser, 224 Seiten, 19,90 Euro
Gesucht: Ein Nachfolger für den im Herbst gefeierten Roman „Gehen, ging, gegangen“. Da befasste sich Jenny Erpenbeck ganz aktuell mit der Lage afrikanischer Flüchtlinge in Berlin. So etwas nennt man dann gerne „Roman der Stunde“, das richtet Aufmerksamkeit aufs Werk, wobei es in der Natur der Auszeichnung liegt, dass die nicht von Dauer ist. Wenige Wochen später nämlich muss es ja einen Nachfolger geben.
Der ist, so scheint es, gefunden: „Ohrfeige“von Abbas Khider. Auch er befasst sich mit der Flüchtlingskrise, jedoch aus einer ganz anderen Perspektive. Khider nämlich, der vor 20 Jahren aus dem Irak floh, schreibt im Stile eines Schelmenromans darüber, wie sich Deutschland anfühlt für den Fremden, der weder Pass noch Geld besitzt. Was auch bedeutet: Deutsche kommen in diesem Buch kaum zu Wort und die für den Roman wichtigste von ihnen, die Sachbearbeiterin Frau Schulz, hat dazu ja auch gar nicht die Chance. Sie sitzt gefesselt auf ihrem schwarzen Bürostuhl, den Mund mit Packband verklebt, und muss nun zuhören, was ihr der Asylsuchende Karim Mensy zu sagen hat. Dessen Anerkennung wurde wider- rufen, nun droht die Abschiebung, und Karim will sich auf den Weg nach Finnland machen. Davor aber rechnet er noch einmal ab, mit den Deutschen, ihrer Bürokratie und speziell mit Frau Schulz, die als Inbegriff des Schreckens unter den Asylbewerbern im bayerischen Niederhofen gilt. Einmal nur hat Karim sie lächeln sehen, da fragte er nach einem Job. „Ich vermute, dass Sie danach Muskelkater hatten.“
Aus dem Irak ist der junge Mann geflohen, weil er eine Enthüllung befürchtet. Nicht die seiner politischen Ansichten, sondern die seines Oberkörpers. In der Pubertät sind ihm Brüste gewachsen, nun soll er zum Militär. „Wie würden diese Soldaten mich wohl anschauen, wenn ich mit wackelnden Brüsten neben ihnen stünde?“Ein Albtraum, vor dem er flieht, zum Onkel nach Frankreich. Statt in Paris aber setzen ihn die Schlepper in Bayern aus. Was er dort in drei Jahren kennenlernt, hat mit weiß-blauer Herrlichkeit wenig gemein: ein Asylbewerberheim in Bayreuth, später eine schäbige Wohnung im Industriegebiet von Niederhofen, dann noch den Unterschlupf bei einem Freund in München und die Goethe-Moschee, ein karger Raum im dritten Stock eines Hauses in der Goethestraße, in dem Jobs, Bräute und Schlepper vermittelt werden.
Wer möchte, kann biografische Überschneidungen entdecken. Auch Abbas Khider, der vom Saddam-Regime verhaftet und gefoltert wurde, landete auf seiner Flucht einst unfreiwillig in Bayern. Eigentlich auf dem Weg nach Schweden wurde er im Zug von bayerischen Grenzbeamten kontrolliert und seiner Odyssee damit ein Ende gesetzt. Danach aber gelang Khider all das, wovon sein Held Karim nun nur träumen kann: In München und Potsdam studierte er Literatur und Philosophie. 2008 erschien sein Debütroman „Der falsche Inder“, er wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nelly-Sachs-Preis. Er sagt: „Ich habe einfach nur Glück gehabt.“Mit der Arbeit zu seinem nun vierten Roman begann Khider, lange bevor im vergangenen Jahr sich Millionen Menschen auf den Monolog ist ein Lamento ohne Dramaturgie, dem der Leser zuhören kann – aber keinen Zwang verspürt, bis zum Ende dabei zu bleiben. Kaum spürbar ist im Text da die Wut, die zumindest in der Fantasie zur Ohrfeige führt, stattdessen eher ein naives Wundern.
Nicht der Roman der Stunde also. Aber ein Buch, dessen Stärke tatsächlich im Perspektivwechsel liegt. Khider und sein liebenswürdiger Karim nämlich haben ja etwas zu erzählen, was man hören sollte: Wie man vom Nichtstun jeden Tag dämlicher werde; dass erfundene Geschichten sich im Asylantrag besser machen als die wahren; und „was es bedeutet für einen Menschen, wenn er weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf“. Er beschreibt Situationen aus dem Flüchtlingsalltag, die an Absurdität kaum mehr zu überbieten sind. Wenn Karim beispielsweise versucht, einen Platz im Deutschkurs zu ergattern, ihm aber beschieden wird, dafür müsse er erst ein Jahr lang gearbeitet haben. Wie aber eine Arbeit finden, wenn man sich noch nicht einmal verständigen kann? Und wie sich eigentlich integrieren in eine Gesellschaft, wenn man ständig in die Randbezirke abgeschoben wird, schon räumlich also die Isolierung zementiert wird? Deutsche, heißt es einmal, erscheinen ihm wie „Fabelwesen aus einem fernen Märchenland“.
Irgendwann wird Karim ein Job bei einer Fast-Food-Kette in Aussicht gestellt. Der Mann vom Arbeitsamt verspricht: Dann könne er „langsam, ein guter Bürger werden“. – „Wie meinen Sie das, ein Burger werden?“– Bürger, nicht Burger, entgegnet der Mann: „Mit Umlaut.“Ob Flüchtling oder Deutscher – so manches in diesem Lande kann man nicht verstehen.