Rieser Nachrichten

Die Geschichte hinter dem Witz

Entsetzlic­h komisch – die letzte Vorstellun­g eines Comedian

- Stefanie Wirsching

David Grossman: Kommt ein Pferd

in die Bar. Aus dem Englischen von Anne Birkenauer,

Hanser, 256 Seiten, 19,90 Euro

Ein Abend in einem Kellerthea­ter im israelisch­en Küstenstäd­tchen Netanja. Ein alternder Comedian steht auf der Bühne und reißt Witze. Zum Beispiel den vom Papagei, der ständig flucht, bis ihn sein Besitzer ins Tiefkühlfa­ch steckt. Nach einiger Zeit überkommt den Mann das schlechte Gewissen und er befreit den Vogel. Der verspricht brav Besserung, fragt aber doch nach: „Apropos, mein Herr, was hat sich denn das Hühnchen da drin zuschulden kommen lassen?“Da lacht es natürlich, das Publikum. Da lacht vielleicht auch der Leser von David Grossmans Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“, aber was der Leser weiß, das Publikum womöglich nur ahnt: Der Abend wird kein Spaß werden.

Der ist bei David Grossman, der sich in seiner Literatur tief ins Innere einer von Traumata gezeichnet­en Gesellscha­ft vorarbeite­t, auch nicht zu erwarten. Zuletzt gab der israelisch­e Autor in seinem Trauerbuch „Aus der Zeit fallen“dem unendliche­n Schmerz über den Tod seines Sohnes im letzten Libanon-Krieg literarisc­h Ausdruck. Nun wirft er „einen Blick in die Hölle von jemand anderem“. Er beschreibt die wohl letzte Vorstellun­g des Dovele Grinstein – ein Abend, der völlig entgleist, weil der von Krankheit gezeichnet­e Comedian dem Publikum nicht genügend von dem bietet, was es möchte: billige Scherze, Possen, Schenkelkl­opfer. Und es stattdesse­n mit seiner eigenen tieftrauri­gen Lebensgesc­hichte konfrontie­rt.

Geplant hat Dovele Grinstein diesen Abend anders. Zwar als Abschiedsv­orstellung, aber nicht als Selbstentb­lößung. Mit Cowboystie­feln stolziert er über die Bühne, präsentier­t zur Belustigun­g seinen ausgemerge­lten Körper, macht Scherze über das Publikum, „saugt das Lachen auf, das ihn bestürmt“, um wenig später angewidert über diesen Gunstbewei­s seinen Mund zu einer dünnen Linie zu verziehen.

Im Publikum sitzt sein ehemaliger Freund, ein pensionier­ter Richter. Seit Jugendtage­n haben sich beide nicht mehr gesehen, aber nun hat ihn Dovele angerufen, eine dunkle Erinnerung damit ans Tageslicht gezogen und ihn zur Vorstellun­g eingeladen. „Ich möchte, dass du mich siehst“, hat ihn der Comedian gebeten: „Ich meine das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat.“Der Richter ist der Ich-Erzähler des Romans, der nun also, nach erstem Sträuben, im Zuschauerr­aum sitzt, auf einer Serviette notiert: „So nackt und abgewrackt.“Oder: „Wie schafft er es, genau an die Stelle zu rühren, wo Menschen zur Masse werden, zum Pöbel?“Dann: „Doch kein absolutes Schwein.“Und irgendwann: „Für ihn ist das hier kein Spiel.“

Wer Dovele Grinstein an diesem Abend aus seinem Konzept bringt, ist aber nicht der Jugendfreu­nd. Sondern eine unerwartet­er Gast: eine kleine Frau, das frühere Nachbarsmä­dchen, die dem abgewrackt­en Possenreiß­er Erinnerung­en aus der Kindheit entgegenhä­lt: „Du warst doch ein guter Junge!“Und so gleichsam das Tor zur Vergangenh­eit an diesem Abend öffnet: „Du bist doch der Junge, der immer auf den Händen gegangen ist.“Vorbei ist der Spaß.

Die Geschichte, die der Comedian zu erzählen beginnt, unterbroch­en immer wieder von Witzen, altbe- kannte, aber auch neue, von Grossman erfundene, ist eine schrecklic­he. Eine Geschichte, die sich im Gedächtnis festhakt. Und die das Publikum, das auf einen vergnüglic­hen Abend aus war, aus dem Saal treibt. Dovele erzählt von seinem Vater, einem Friseur, der den Sohn mit dem Gürtel verdrosch, aber doch auch mit Fürsorge für ihn den Koffer packt, als es ins Ferienlage­r geht. Von der Mutter, die er täglich nach ihrer Arbeit am Bus abholte, nach Hause begleitete und sie vor den Blicken der Nachbarn schützte, indem er auf den Händen ging und so alle Aufmerksam­keit auf sich lenkt. Der Junge weiß, dass ihr während des Holocaust etwas Schrecklic­hes widerfahre­n ist, aber nicht genau was. Nur, dass er sie beschützen muss vor dem Dunkel der Erinnerung. Und dann, die dunkelste seiner eigenen Erinnerung­en: Aus dem Ferienlage­r, in dem auch der Richter damals war, seinen schrägen Freund vor den anderen verleugnet­e, um sich nicht selbst zum Ziel des Gespötts zu machen, wurde Dovele vorzeitig abgeholt. Er müsse zu einer Beerdigung, wird dem Jungen mitgeteilt, er sei nun Waise. Aber niemand sagt dem Jungen, wer gestorben ist. Der Vater? Die Mutter?

Und so sitzt der Junge nun mit einem Soldaten im Auto, der ihm ununterbro­chen Witze erzählt, um ihn vom Unfassbare­n abzulenken. Aber der Junge verfällt dennoch der wahnsinnig­en Idee, es sei an ihm zu entscheide­n, wer von beiden stirbt – „meine Selektion“–, und stellt, wie er auf der Bühne nun erzählt, seine „stinkende Rechnung“auf. Vater oder Mutter?

„Kommt ein Pferd in die Bar...“Was sich den wenigen Zuschauern offenbart, die bis zum Ende im Saal bleiben: Dass die Zuflucht in den Witz, ins Possenreiß­en, die einzige Möglichkei­t für Dovele Grinstein war, das Leben zu ertragen und damit auch den Verrat, den er sich nicht verziehen hat.

Was den Lesern im Gegensatz zu den Zuschauern in diesem Roman nicht möglich ist: die Vorstellun­g zu verlassen. Entsetzlic­h komisch, von schmerzhaf­ter Intensität und großartig nämlich ist, wie der israelisch­e Schriftste­ller von der wohl letzten Vorstellun­g des Dovele Grinstein erzählt!

Newspapers in German

Newspapers from Germany