Die Geschichte hinter dem Witz
Entsetzlich komisch – die letzte Vorstellung eines Comedian
David Grossman: Kommt ein Pferd
in die Bar. Aus dem Englischen von Anne Birkenauer,
Hanser, 256 Seiten, 19,90 Euro
Ein Abend in einem Kellertheater im israelischen Küstenstädtchen Netanja. Ein alternder Comedian steht auf der Bühne und reißt Witze. Zum Beispiel den vom Papagei, der ständig flucht, bis ihn sein Besitzer ins Tiefkühlfach steckt. Nach einiger Zeit überkommt den Mann das schlechte Gewissen und er befreit den Vogel. Der verspricht brav Besserung, fragt aber doch nach: „Apropos, mein Herr, was hat sich denn das Hühnchen da drin zuschulden kommen lassen?“Da lacht es natürlich, das Publikum. Da lacht vielleicht auch der Leser von David Grossmans Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“, aber was der Leser weiß, das Publikum womöglich nur ahnt: Der Abend wird kein Spaß werden.
Der ist bei David Grossman, der sich in seiner Literatur tief ins Innere einer von Traumata gezeichneten Gesellschaft vorarbeitet, auch nicht zu erwarten. Zuletzt gab der israelische Autor in seinem Trauerbuch „Aus der Zeit fallen“dem unendlichen Schmerz über den Tod seines Sohnes im letzten Libanon-Krieg literarisch Ausdruck. Nun wirft er „einen Blick in die Hölle von jemand anderem“. Er beschreibt die wohl letzte Vorstellung des Dovele Grinstein – ein Abend, der völlig entgleist, weil der von Krankheit gezeichnete Comedian dem Publikum nicht genügend von dem bietet, was es möchte: billige Scherze, Possen, Schenkelklopfer. Und es stattdessen mit seiner eigenen tieftraurigen Lebensgeschichte konfrontiert.
Geplant hat Dovele Grinstein diesen Abend anders. Zwar als Abschiedsvorstellung, aber nicht als Selbstentblößung. Mit Cowboystiefeln stolziert er über die Bühne, präsentiert zur Belustigung seinen ausgemergelten Körper, macht Scherze über das Publikum, „saugt das Lachen auf, das ihn bestürmt“, um wenig später angewidert über diesen Gunstbeweis seinen Mund zu einer dünnen Linie zu verziehen.
Im Publikum sitzt sein ehemaliger Freund, ein pensionierter Richter. Seit Jugendtagen haben sich beide nicht mehr gesehen, aber nun hat ihn Dovele angerufen, eine dunkle Erinnerung damit ans Tageslicht gezogen und ihn zur Vorstellung eingeladen. „Ich möchte, dass du mich siehst“, hat ihn der Comedian gebeten: „Ich meine das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat.“Der Richter ist der Ich-Erzähler des Romans, der nun also, nach erstem Sträuben, im Zuschauerraum sitzt, auf einer Serviette notiert: „So nackt und abgewrackt.“Oder: „Wie schafft er es, genau an die Stelle zu rühren, wo Menschen zur Masse werden, zum Pöbel?“Dann: „Doch kein absolutes Schwein.“Und irgendwann: „Für ihn ist das hier kein Spiel.“
Wer Dovele Grinstein an diesem Abend aus seinem Konzept bringt, ist aber nicht der Jugendfreund. Sondern eine unerwarteter Gast: eine kleine Frau, das frühere Nachbarsmädchen, die dem abgewrackten Possenreißer Erinnerungen aus der Kindheit entgegenhält: „Du warst doch ein guter Junge!“Und so gleichsam das Tor zur Vergangenheit an diesem Abend öffnet: „Du bist doch der Junge, der immer auf den Händen gegangen ist.“Vorbei ist der Spaß.
Die Geschichte, die der Comedian zu erzählen beginnt, unterbrochen immer wieder von Witzen, altbe- kannte, aber auch neue, von Grossman erfundene, ist eine schreckliche. Eine Geschichte, die sich im Gedächtnis festhakt. Und die das Publikum, das auf einen vergnüglichen Abend aus war, aus dem Saal treibt. Dovele erzählt von seinem Vater, einem Friseur, der den Sohn mit dem Gürtel verdrosch, aber doch auch mit Fürsorge für ihn den Koffer packt, als es ins Ferienlager geht. Von der Mutter, die er täglich nach ihrer Arbeit am Bus abholte, nach Hause begleitete und sie vor den Blicken der Nachbarn schützte, indem er auf den Händen ging und so alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Der Junge weiß, dass ihr während des Holocaust etwas Schreckliches widerfahren ist, aber nicht genau was. Nur, dass er sie beschützen muss vor dem Dunkel der Erinnerung. Und dann, die dunkelste seiner eigenen Erinnerungen: Aus dem Ferienlager, in dem auch der Richter damals war, seinen schrägen Freund vor den anderen verleugnete, um sich nicht selbst zum Ziel des Gespötts zu machen, wurde Dovele vorzeitig abgeholt. Er müsse zu einer Beerdigung, wird dem Jungen mitgeteilt, er sei nun Waise. Aber niemand sagt dem Jungen, wer gestorben ist. Der Vater? Die Mutter?
Und so sitzt der Junge nun mit einem Soldaten im Auto, der ihm ununterbrochen Witze erzählt, um ihn vom Unfassbaren abzulenken. Aber der Junge verfällt dennoch der wahnsinnigen Idee, es sei an ihm zu entscheiden, wer von beiden stirbt – „meine Selektion“–, und stellt, wie er auf der Bühne nun erzählt, seine „stinkende Rechnung“auf. Vater oder Mutter?
„Kommt ein Pferd in die Bar...“Was sich den wenigen Zuschauern offenbart, die bis zum Ende im Saal bleiben: Dass die Zuflucht in den Witz, ins Possenreißen, die einzige Möglichkeit für Dovele Grinstein war, das Leben zu ertragen und damit auch den Verrat, den er sich nicht verziehen hat.
Was den Lesern im Gegensatz zu den Zuschauern in diesem Roman nicht möglich ist: die Vorstellung zu verlassen. Entsetzlich komisch, von schmerzhafter Intensität und großartig nämlich ist, wie der israelische Schriftsteller von der wohl letzten Vorstellung des Dovele Grinstein erzählt!