Istanbul sehen und weiterleben
Aus Anatolien an den Bosporus: Familiensaga und Hommage an eine Metropole
Die Türkei spielt eine Schlüsselrolle in der aktuellen Flüchtlingsbewegung: als Transitland auf dem Weg nach Mitteleuropa und Deutschland, als Zufluchtsort für Menschen aus dem vom Krieg verheerten benachbarten Syrien – und als Bollwerk vor den Grenzen Europas. Jeder Kameraschwenk in den Nachrichtensendungen erfasst Schicksale von Frauen, Männern, Kindern zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Über Menschen, die aufgebrochen sind, weil sie woanders ein besseres Leben suchen müssen und finden wollen, schreibt auch der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“.
Doch Pamuk erzählt nicht von Vertreibung, Flucht und Einwandung, sondern von Zuwanderung und Kräfteverschiebungen im eigenen Land – nämlich dem Sog, den die Metropole Istanbul seit Jahrzehnten auf hunderttausende Türken aus ländlichen Regionen wie Anatolien ausübt. Sie leben anfangs in Hütten und Behelfssiedlungen auf Hügeln am Rande der Stadt – ohne Strom und Wasser. Doch irgendwann verleibt sich die gefräßige Metropole diese Schwarzbauten ein. Jenes Istanbul übrigens, das nicht nur aufnimmt, sondern auch vertreibt. Pamuk erinnert auch daran, wie die Pogrome gegen Griechen und Armenier sich in die jüngere Stadtgeschichte eingeschrieben haben.
Orhan Pamuk, geboren 1952 in Istanbul, verknüpft in seinem Buch auf fast 600 Seiten eine bewegende Familiensaga über vier Generationen mit dem rasanten, ungestümen und umwälzenden Wachstum Istanbuls seit den 1970er Jahren. Sein Roman ist ein souverän gestaltetes, durchaus konventionell erzähltes Lesevergnügen. Ausgebreitet wird „die Geschichte vom Leben und den Träumen des Joghurt- und BozaVerkäufers Mevlut Karatas“, der 1969 mit zwölf aus seinem anatolischen Dorf nach Istanbul kam „und von da an in der Hauptstadt der Welt lebte“. Nicht zum ersten Mal im Werk dieses Autors ist das Buch auch eine in Nostalgie getränkte Hommage an die Weltstadt Istanbul. Der Stadt am Bosporus hat der Schriftsteller ja sogar ein aus seinem Roman „Das Museum der Unschuld“erwachsenes reales Museum geschenkt, in dem vor allem Dinge zu bewundern sind, die den Alltag Istanbuls in den 1950er bis 1980er Jahren prägten.
„Diese Fremdheit in mir“hat einen naiven, menschenfreundlichen und genügsamen „Helden“, dessen Lebensweg und Existenzkampf Pamuk mit Sympathie ausbreitet. Mevlut kommt mit dem Vater in die Großstadt. Sie verkaufen Joghurt auf der Straße, später Boza, ein zähflüssiges Getränk aus vergorener Hirse, leicht alkoholhaltig, das unter Muslimen stillschweigend aber nicht als verbotener Alkohol gilt… Sein ganzes Leben bleibt Mevlut Straßenverkäufer („die Nachtigallen der Stadt“) – weil er das Umhergehen in den Straßen liebt, das Mittreiben im Gewoge der Metropole. Wie ein Ritter der traurigen Gestalt und Bote aus einer längst vergangenen Zeit erscheint der einsame „Booozaa!“-Rufer in der Stadtwüste – unverdrossen, obgleich Joghurt und Boza längst abgepackt in Supermärkten verkauft werden.
Auch der Bruder von Mevluts Vater ist mit seinen Söhnen Korkut und Süleyman von Anatolien auf einen der Tagelöhnerhügel gezogen – die Familien werden sich schicksalhaft verbunden bleiben über die Töchter des Witwers Efendi aus ihrem Dorf, die zu den Ehefrauen von Korkut und Mevlut werden. Eine Verwechslung, ein Irrtum ist das zentrale Motiv des Romans.
Der jugendliche Mevlut verliebt sich auf Korkuts Hochzeit mit Vediha, der ältesten der drei WitwerTöchter, in die schwarzen Augen einer der zwei Schwestern der Braut. Ihr schreibt er glühende Liebesbriefe heim ins Dorf, überbracht von Süleyman. Was Mevlut, als er schließlich sein Mädchen entführt, nicht ahnt: Die Briefe gingen nicht an die Schwarzäugige, Samiha, sondern an Rayiha, die unscheinbare mittlere Schwester – die schließlich, obwohl er sie nicht gemeint hat, als Entführte Mevluts Ehefrau wird. Typisch für den sanftmütigen BozaVerkäufer: Er wird glücklich mit Rayiha, sie haben zwei Töchter, die später studieren werden.
Wie Mevlut sich durch seine Ju- gend fantasiert und masturbiert, wie er die Schule verlässt, sich emanzipiert vom Vater (der dann ganz beiläufig stirbt), sich durchschlägt nach der stoisch ertragenen Militärzeit – all das beschreibt Pamuk einfühlsam und aus der Perspektive verschiedener Protagonisten seines Romans. Während in den Hügelvierteln und in der Familie um Politik, Geld und Einfluss gestritten, um Grundstücke und Vorteile spekuliert wird, bleibt Mevlut ein fatalistischer Träumer, der sich von gesellschaftlichen Umbrüchen nicht wirklich erschüttern lässt. Ebenso wenig wie von Ausschlägen des Schicksals, Todesfällen und zerbrochenen Freundschaften.
Pamuks Kunstfertigkeit besteht darin, seinen Roman mit vielen Themen und Tonlagen anzureichern. Es geht um Religion und Staat, Emanzipation und Korruption, um eine Gesellschaft, die sich vorm Fernseher betäubt und in der Gier nach Vorteilen Traditionen und das menschliche Maß vergisst. Um ein Istanbul, das an der Rücksichtslosigkeit des Wachstums zugrunde zu gehen droht. Am Ende wird in dieser großartigen Stadt ein Märchen doch noch wahr. Es endet in einer Hochhauswohnung auf einem Hügel. Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Hanser, 592 Seiten, 26 Euro