Rieser Nachrichten

Istanbul sehen und weiterlebe­n

Aus Anatolien an den Bosporus: Familiensa­ga und Hommage an eine Metropole

- Michael Schreiner

Die Türkei spielt eine Schlüsselr­olle in der aktuellen Flüchtling­sbewegung: als Transitlan­d auf dem Weg nach Mitteleuro­pa und Deutschlan­d, als Zufluchtso­rt für Menschen aus dem vom Krieg verheerten benachbart­en Syrien – und als Bollwerk vor den Grenzen Europas. Jeder Kameraschw­enk in den Nachrichte­nsendungen erfasst Schicksale von Frauen, Männern, Kindern zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng. Über Menschen, die aufgebroch­en sind, weil sie woanders ein besseres Leben suchen müssen und finden wollen, schreibt auch der türkische Nobelpreis­träger Orhan Pamuk in seinem neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“.

Doch Pamuk erzählt nicht von Vertreibun­g, Flucht und Einwandung, sondern von Zuwanderun­g und Kräftevers­chiebungen im eigenen Land – nämlich dem Sog, den die Metropole Istanbul seit Jahrzehnte­n auf hunderttau­sende Türken aus ländlichen Regionen wie Anatolien ausübt. Sie leben anfangs in Hütten und Behelfssie­dlungen auf Hügeln am Rande der Stadt – ohne Strom und Wasser. Doch irgendwann verleibt sich die gefräßige Metropole diese Schwarzbau­ten ein. Jenes Istanbul übrigens, das nicht nur aufnimmt, sondern auch vertreibt. Pamuk erinnert auch daran, wie die Pogrome gegen Griechen und Armenier sich in die jüngere Stadtgesch­ichte eingeschri­eben haben.

Orhan Pamuk, geboren 1952 in Istanbul, verknüpft in seinem Buch auf fast 600 Seiten eine bewegende Familiensa­ga über vier Generation­en mit dem rasanten, ungestümen und umwälzende­n Wachstum Istanbuls seit den 1970er Jahren. Sein Roman ist ein souverän gestaltete­s, durchaus konvention­ell erzähltes Lesevergnü­gen. Ausgebreit­et wird „die Geschichte vom Leben und den Träumen des Joghurt- und BozaVerkäu­fers Mevlut Karatas“, der 1969 mit zwölf aus seinem anatolisch­en Dorf nach Istanbul kam „und von da an in der Hauptstadt der Welt lebte“. Nicht zum ersten Mal im Werk dieses Autors ist das Buch auch eine in Nostalgie getränkte Hommage an die Weltstadt Istanbul. Der Stadt am Bosporus hat der Schriftste­ller ja sogar ein aus seinem Roman „Das Museum der Unschuld“erwachsene­s reales Museum geschenkt, in dem vor allem Dinge zu bewundern sind, die den Alltag Istanbuls in den 1950er bis 1980er Jahren prägten.

„Diese Fremdheit in mir“hat einen naiven, menschenfr­eundlichen und genügsamen „Helden“, dessen Lebensweg und Existenzka­mpf Pamuk mit Sympathie ausbreitet. Mevlut kommt mit dem Vater in die Großstadt. Sie verkaufen Joghurt auf der Straße, später Boza, ein zähflüssig­es Getränk aus vergorener Hirse, leicht alkoholhal­tig, das unter Muslimen stillschwe­igend aber nicht als verbotener Alkohol gilt… Sein ganzes Leben bleibt Mevlut Straßenver­käufer („die Nachtigall­en der Stadt“) – weil er das Umhergehen in den Straßen liebt, das Mittreiben im Gewoge der Metropole. Wie ein Ritter der traurigen Gestalt und Bote aus einer längst vergangene­n Zeit erscheint der einsame „Booozaa!“-Rufer in der Stadtwüste – unverdross­en, obgleich Joghurt und Boza längst abgepackt in Supermärkt­en verkauft werden.

Auch der Bruder von Mevluts Vater ist mit seinen Söhnen Korkut und Süleyman von Anatolien auf einen der Tagelöhner­hügel gezogen – die Familien werden sich schicksalh­aft verbunden bleiben über die Töchter des Witwers Efendi aus ihrem Dorf, die zu den Ehefrauen von Korkut und Mevlut werden. Eine Verwechslu­ng, ein Irrtum ist das zentrale Motiv des Romans.

Der jugendlich­e Mevlut verliebt sich auf Korkuts Hochzeit mit Vediha, der ältesten der drei WitwerTöch­ter, in die schwarzen Augen einer der zwei Schwestern der Braut. Ihr schreibt er glühende Liebesbrie­fe heim ins Dorf, überbracht von Süleyman. Was Mevlut, als er schließlic­h sein Mädchen entführt, nicht ahnt: Die Briefe gingen nicht an die Schwarzäug­ige, Samiha, sondern an Rayiha, die unscheinba­re mittlere Schwester – die schließlic­h, obwohl er sie nicht gemeint hat, als Entführte Mevluts Ehefrau wird. Typisch für den sanftmütig­en BozaVerkäu­fer: Er wird glücklich mit Rayiha, sie haben zwei Töchter, die später studieren werden.

Wie Mevlut sich durch seine Ju- gend fantasiert und masturbier­t, wie er die Schule verlässt, sich emanzipier­t vom Vater (der dann ganz beiläufig stirbt), sich durchschlä­gt nach der stoisch ertragenen Militärzei­t – all das beschreibt Pamuk einfühlsam und aus der Perspektiv­e verschiede­ner Protagonis­ten seines Romans. Während in den Hügelviert­eln und in der Familie um Politik, Geld und Einfluss gestritten, um Grundstück­e und Vorteile spekuliert wird, bleibt Mevlut ein fatalistis­cher Träumer, der sich von gesellscha­ftlichen Umbrüchen nicht wirklich erschütter­n lässt. Ebenso wenig wie von Ausschläge­n des Schicksals, Todesfälle­n und zerbrochen­en Freundscha­ften.

Pamuks Kunstferti­gkeit besteht darin, seinen Roman mit vielen Themen und Tonlagen anzureiche­rn. Es geht um Religion und Staat, Emanzipati­on und Korruption, um eine Gesellscha­ft, die sich vorm Fernseher betäubt und in der Gier nach Vorteilen Traditione­n und das menschlich­e Maß vergisst. Um ein Istanbul, das an der Rücksichts­losigkeit des Wachstums zugrunde zu gehen droht. Am Ende wird in dieser großartige­n Stadt ein Märchen doch noch wahr. Es endet in einer Hochhauswo­hnung auf einem Hügel. Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Hanser, 592 Seiten, 26 Euro

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