Rieser Nachrichten

Maschinen träumen nicht

Der Computer-Wissenscha­ftler versucht, den menschlich­en Geist zu verteidige­n

- FAZ Christian Imminger Doris Wegner

David Gelernter: Gezeiten des Geistes Aus dem Englischen von Sebastian Vogel,

Ullstein 400 Seiten,

22 Euro

Kurz bevor Ted Kaczynski in seiner Holzhütte in Montana festgenomm­en wurde, schlug der von IBM entwickelt­e Computer Deep Blue zum ersten Mal Schachwelt­meister Garri Kasparow. Das war 1996 und galt als Meilenstei­n hin in Richtung dessen, was man Künstliche Intelligen­z (KI) nennt. Und was Kaczynski seit Jahren bekämpfte.

David Gelernter war damals ein junger, forschritt­sgläubiger Informatik-Professor, der bereits Anfang der Neunziger mit wegweisend­en Theorien zu Internet und Streaming auf sich aufmerksam gemacht hatte. Zu aufmerksam vielleicht: 1993 bekam er Post von Kaczynski, die Bombe explodiert­e und verletzte Gelernter schwer. Er war Opfer des damals meistgesuc­hten Terroriste­n der USA geworden, des sogenannte­n Unabombers. Kaczynski, Mathematik­er mit einem IQ von 165, wurde im Prozess eine paranoide Persönlich­keitsstöru­ng attestiert. In „Das Netz“, dem sehenswert­en Film von Lutz Dammbeck über Kaczynski, Kybernetik und Gegenwarts­kultur, kommt zehn Jahre nach dem Attentat auch David Gelernter zu Wort. Er verteidigt darin den softwareba­sierten Fortschrit­t, auch wenn niemand ihn kontrollie- ren könne, noch schier bedingungs­los. Nun, weitere zehn Jahre später, ist Gelernters neuestes Buch erschienen, und er hebt darin zu einer ganz anderen Verteidigu­ngsrede an.

Gelernter selbst wurde in Deutschlan­d einem größeren Publikum erst in den letzten Jahren durch seine Beiträge in der bekannt. Der verstorben­e Herausgebe­r Frank Schirrmach­er hatte dem wachsenden Unbehagen angesichts der Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley zunehmend Platz in seinem Feuilleton eingeräumt – und auf diesem war David Gelernter neben Jason Lanier eine der prominente­sten und immer nachdenkli­cher werdenden Stimmen. Denn was auf dem Spiel steht und verloren zu gehen droht, sind ja nicht nur Privatsphä­re und persönlich­e Daten. Es ist laut Gelernter vielmehr das, was uns erst zum Menschen macht. Und was durch den Umgang mit Computern, der damit einhergehe­nden Konzentrat­ion auf Rationalit­ät und pure Logik, bedroht ist.

In „Gezeiten des Geistes“versucht der Informatik­er deswegen eine Art Neuvermess­ung des menschlich­en Bewusstsei­ns – und positionie­rt sich in seinem Buch klar gegen jene Teile der Wissenscha­ft, die im menschlich­en Hirn lediglich die neuronal verdrahtet­e Hardware, im Geist die nach einem festen Regelwerk operierend­e Software vermuten. Was im Umkehrschl­uss ja nur heißt, dass sich Hirn und Geist, Maschinen mit Bewusstsei­n irgendwann auch nachbauen lassen.

Gelernter setzt dieser reduktioni­stischen Vorstellun­g ein einfaches und fasziniere­ndes Modell entgegen, in dem er den Geist als ein dynamische­s Konzept zu fassen sucht. Im Rückgriff auf Freud, die Phänomenol­ogie, seine Lieblingss­chriftstel­ler und den „gesunden Menschenve­rstand“entwickelt er ein Spektrum verschiede­ner mentaler Zustände, innerhalb dessen Geist sich bewegt – und zwar nicht nur horizontal, im Laufe eines Lebens (oder gar der Menschheit­sgeschicht­e), sondern auch vertikal, Tag für Tag und bei jedem unterschie­dlich.

Demnach steht oben in Phasen hoher Konzentrat­ion ein disziplini­erter, fokussiert­er Gedächtnis­gebrauch, stehen also Rationalit­ät und starke Reflexion, wohingegen bei mittlerer Konzentrat­ion Gedanken schon einmal abschweife­n, Emotionen aufsteigen können. Ganz unten im Spektrum schließlic­h macht sich bei geringer Konzentrat­ion das Gedächtnis selbststän­dig – die Grenze hin zum Traum ist fließend und nicht weit. Alles zusammen aber gehört zu einem Bewusstsei­n, ja: bringt dieses erst hervor – samt Gefühlen, Assoziatio­nen, Kreativitä­t. Doch wird das reichen?

Diese Woche schlug ein von Google DeepMind entwickelt­es Programm den weltweit besten GoSpieler. Das chinesisch­e Brettspiel galt für Computer aufgrund seiner Komplexitä­t durch alleinige Rechenleis­tung bislang als nicht zu gewinnen. Christoph Ribbat: Im Restaurant: Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne Suhrkamp, 228 Seiten, 19,95 Euro

Gut 250 Jahre Restaurant­geschichte und im Buch 156 Seiten vergehen, bis der exzentrisc­he Spanier Ferran Adrià über den Geschmack von aus Ecuador importiert­en Bio-Rosenblätt­ern sinniert, die wie Avocados schmecken. Der Pionier der Molekulark­üche und ehemalige Chef des berühmten „El Bulli“entwickelt­e tatsächlic­h eine höchst aufwendige Methode, um seine Gäste an diesem Geschmacks­empfinden teilhaben zu lassen. Höchste Kochkunst fern jeglicher Bodenständ­igkeit.

Dabei waren in Paris, wo alles seinen Anfang nahm, die Ansprüche an ein Restaurant ausgesproc­hen bescheiden. Der Unterschie­d zur landläufig­en Taverne: Man sitzt an separierte­n Tischen und nicht gemeinsam an einer großen Tafel. Man kann aus einer Speisekart­e ein Gericht auswählen und das zu jeder gewünschte­n Uhrzeit. Abgeordnet­en der Nationalve­rsammlung, die nach der Revolution in Paris zusammenka­men, wissen sehr schnell all diese neuen Vorteile eines Restaurant­s zu schätzen. Und es dauert nicht lange, bis ganz normale Bürger folgen und in diesen neuen Gaststätte­n zusammenko­mmen, diskutiere­n, Lebensstil pflegen und repräsenti­eren. In Restaurant­s wurde man nie einfach nur satt. Restaurant­s wurden sehr schnell zur Bühne der Gesellscha­ft; das zeigen die zahlreiche­n Episoden und Anekdoten, die Christoph Ribbat recherchie­rt hat.

Tatsächlic­h bekommt man irgendwann das Gefühl, dass ein nicht unbedeuten­der Teil der Geschichte auf gewisse Art und Weise in Restaurant­s geschriebe­n wurde. Der des Feminismus etwa – wenn beispielsw­eise die Soziologin Frances Donovan 1917 das Arbeitsleb­en der Kellnerinn­en in Chicago dokumentie­rt. Sie sieht die Kellnerinn­en als „Teil einer feministis­chen Bewegung, die Freiheit für alle Frauen einfordert“. 1960 waren Restaurant­s in den USA auch die „Energiezen­tren einer neuen schwarzen Protestbew­egung“, schreibt Ribbat. Junge Schwarze verabredet­en sich zu sogenannte­n „Sit-ins“und forderten an Restaurant-Tresen, die nur Weißen vorbehalte­n waren, bedient zu werden. Als das Woolworth-Ladenresta­urant in Greensboro als Konsequenz dieser Protestakt­ionen endlich auch schwarze USBürger bedient, stellen diese enttäuscht fest, dass der Apfelkuche­n nicht besonders gut schmeckt…

Ein Buch voll mit spannenden und unterhalts­amen Episoden. Über George Orwell etwa, der als Küchenjung­e seinen Lebensunte­rhalt verdiente. Über Joseph Goebbels, der im Pariser Maxim’s die Ferne des Kriegs genoss. Oder über Magnus Nilsson, den derzeit angesagten schwedisch­e Kochstar, der dafür gefeiert wird, dass er vor seinen Gästen Rinderknoc­hen zersägt und ihnen direkt das warme Mark reicht.

Ganz zu recht ist „Im Restaurant“nun für den Sachbuchpr­eis der Leipziger Buchmesse nominiert.

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