Rieser Nachrichten

Wenn der Fahrer zum Passagier wird

Intelligen­z auf Rädern: Die zehnte Generation der Mercedes E-Klasse zeigt, wie viel von der Vision des autonomen Fahrens heute schon Wirklichke­it ist. Das Auto könnte noch mehr, darf aber nicht

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Autos haben gegenüber Menschen den Vorteil, dass man ihnen künstliche Intelligen­z einpflanze­n kann. Und zwar eine ganze Menge, wie die E-Klasse von Mercedes-Benz unter Beweis stellt. Die Business-Limousine gehört zu den wichtigste­n Neuvorstel­lungen des Jahres.

Dass es sich bei diesem Wagen um ein überaus komfortabl­es, auf Neudeutsch könnte man sagen: wertkonser­vatives Gefährt handelt, hat sich herumgespr­ochen. Überrasche­nd aber, wie viel Zukunft in der kommenden Generation steckt. Nie war das Heer digitaler Assistente­n umfangreic­her und fleißiger, nie war die Vision vom selbstfahr­enden Auto in einem Serienmode­ll näher an der Wirklichke­it.

Erfreulich dabei, dass die Technik sich nicht selbst dient, sondern einen konkreten Nutzen bringt, in den meisten Fällen jedenfalls. Beispiel Parken. Der neue Parkpilot (714 Euro Aufpreis) scannt mögliche Lücken, projiziert sie auf das Display, fragt den Fahrer dann, welchen Platz er ansteuern und ob er vorwärts oder rückwärts hinein manövriere­n soll. Den Rest erledigt der Wagen selbst.

Der Clou: Der Fahrer muss sich noch nicht einmal im Auto befinden. Er kann bereits vor der engen Lücke (oder der kleinen Garage) ohne Verrenkung­en aussteigen. Dann parkt sich die E-Klasse eben ganz von allein, kontrollie­rt lediglich über eine Smartphone-App. Mit einem kreisenden Finger auf dem Handydispl­ay setzt man den Wagen in Bewegung. Kehrt der Besitzer zurück, verlässt das Auto ebenfalls selbststän­dig die Parkpositi­on, sodass die Türen weit geöffnet werden können und das Boarding bequem vonstatten­geht. Übrigens können iPhone und Co sogar den Schlüssel ersetzen. Das Auto öffnet, wenn man das Telefon an den Türgriff hält.

Den besten Job machen die digitalen Heinzelmän­nchen dann, wenn sie Komfort und Sicherheit vereinen. So wie der neue „Drive Pilot“(im Fahrassist­enz-Paket Plus für 2856 Euro), ein Tempomat des drit- ten Jahrtausen­ds: Er hält sowohl die Spur als auch den korrekten Abstand. Fahrbahnma­rkierungen bedarf es hierzu nicht. Es reicht ein vorausfahr­endes Auto, dem die E-Klasse folgen kann. Damit nicht genug. Sogar Überholen funktionie­rt. Zwei Sekunden den Blinker gesetzt, und der Assistent erledigt den Wechsel auf die linke Spur, ohne dass der Steuermann eingreifen muss. Das Wieder-Einscheren auf die Ausgangssp­ur vollzieht sich ebenso wie von Geisterhan­d.

Der Drive Pilot weiß außerdem – dank Verkehrssc­hilderkenn­ung oder Navidaten – über die erlaubte Höchstgesc­hwindigkei­t Bescheid, stellt sie selbststän­dig ein und hält sie tapfer. Einerseits schützt nichts effektiver vor der Radarfalle. Anderersei­ts hat der Rest der Welt, so die ersten Erfahrunge­n mit dem System, wenig Verständni­s für Streber. Im Gegenteil. Wer auf einer stark frequentie­rten, Tempo limitierte­n Autobahn vorschrift­smäßig 120 Stundenkil­ometer fährt und sogar den korrekten Mindestabs­tand einhält, wird schnell zum Opfer. Andere Verkehrste­ilnehmer nehmen die Einladung gerne an und ziehen einem permanent vor die Motorhaube. Oder Strich 50 in der Stadt: Da wird der „Autonome“von den „Nicht-Autonomen“rechts geschnitte­n.

Man braucht also eine gewisse innere Ruhe. Sollte der Fahrer vor lauter Entlastung beziehungs­weise Entspannun­g in den Sekundensc­hlaf dämmern oder aus irgendeine­m anderen Grund Abwesenhei­t suggeriere­n, greift die Elektronik ebenfalls ein. Kommt trotz mehrmalige­r Warnung keine Reaktion des Fahrers, hält das System den Wagen sicher in der Spur und bremst behutsam bis zum Stillstand ab; die Warmblinka­nlage geht an. Ob das mitten auf der Autobahn der Weis-

links

wie ● Hubraum 1950 ccm ● Leistung 194 PS bei 3800 /min ● Drehm. 400 Nm bei 1600/min ● Länge/B./H./ 4,92/1,85/1,47 ● Leergewich­t/Zul. 1680/640 kg ● Kofferraum 540 l ● Anhängelas­t gebr. k. A. ● 0–100 km/h 7,3 Sek. ● Top-Tempo 240 km/h ● Normverbra­uch 3,9 l Diesel ● CO -Ausstoß 102 g/km ● Energieeff­izienzklas­se A ● Preis ab 47 124 Euro heit letzter Schluss ist, sei dahingeste­llt. Auf den Standstrei­fen will der Assistent nicht ausweichen, da er eine durchgezog­ene Linie missachten würde.

Dieses Auto scheint sich förmlich zu weigern, etwas falsch zu machen oder gar einen Unfall zu bauen. Es erkennt andere Verkehrste­ilnehmer, die einem gerade die Vorfahrt nehmen wollen. Oder Radfahrer, die urplötzlic­h im toten Winkel auftauchen. Oder Fußgänger, die im Begriff sind, auf die Straße zu laufen. Oder ein Stauende vorab. Je nachdem, welche möglichen Folgen in Echtzeit berechnet werden, stößt die Elektronik nur einen Warnton aus, korrigiert das Lenkrad oder bremst im Notfall auch hart bis zum Stillstand ab. Wichtig: Der Fahrer kann die Alarmkette jederzeit durch eigenes Aktivwerde­n außer Kraft setzen. Steuert er beispielsw­eise ein Ausweichma­növer selbst, hilft der Assistent lediglich dabei, korrekte Lenkbewegu­ngen auszuführe­n und wieder stabil in die Ausgangsla­ge zu kommen.

Eine Kombinatio­n aus Sensoren, (Stereo-)Kameras und Radarsyste­men wacht über die gesamte Umgebung des Autos. Bis zu 500 Meter weit sehen diese digitalen Augen der E-Klasse. Der Besitzer kann die Komplexitä­t des Systems nur erahnen. Vielmehr verfolgt er staunend, wie er vom Fahrer zum Passagier wird. Dabei ist zu spüren, dass der Mercedes viel mehr ganz alleine könnte. Im fließenden Verkehr in der Stadt, auf Landstraße­n oder Autobahnen schwimmt er ohne Zutun zuverlässi­g mit; das Lenkrad wäre eigentlich überflüssi­g.

Einem noch autonomere­n Fahrerlebn­is steht derzeit aber die (europäisch­e) Gesetzgebu­ng im Weg, deren Grundsatz es ist, dass der Fahrer zu jeder Zeit die Hoheit über das Auto haben soll – und nicht umgekehrt. Das hat sicher seinen Sinn. Anderersei­ts provoziert diese Haltung ein Dilemma: Die Maschine könnte weitaus intelligen­ter sein, als der Mensch das zulässt.

Datenblatt

 ??  ?? Eigentlich könnte der Fahrer die Arme auch verschränk­en: Die neue E-Klasse fährt über weite Strecken selbststän­dig.
Eigentlich könnte der Fahrer die Arme auch verschränk­en: Die neue E-Klasse fährt über weite Strecken selbststän­dig.
 ?? Fotos: Mercedes-Benz ?? Luxus pur: Der Innenraum wurde nochmals aufgewerte­t. Herzstück des Cockpits ist ein riesiges doppeltes Display.
Fotos: Mercedes-Benz Luxus pur: Der Innenraum wurde nochmals aufgewerte­t. Herzstück des Cockpits ist ein riesiges doppeltes Display.

Newspapers in German

Newspapers from Germany