Rieser Nachrichten

Wie wir den Planeten formen

Der Geologe Reinhold Leinfelder ist Teil einer Arbeitsgru­ppe, die beweisen will, dass der Mensch ein neues Erdzeitalt­er geschaffen hat

- Warum ist das von Bedeutung? Wann hat die Menschenze­it begonnen? HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST Interview: Franziska Roos

Herr Leinfelder, warum brauchen wir ein neues Erdzeitalt­er?

Der Mensch greift seit längerem stark in die Umwelt ein. Er hat sich zu einer geologisch­en Kraft entwickelt, die einen massiven Einfluss auf das Erdsystem hat. Schon früher gab es Veränderun­gen unseres Erdsystems, allerdings nicht in der Schnelligk­eit wie wir sie heute verursache­n. Wir müssen umdenken. Es ist an der Zeit, ein neues Erdzeitalt­er auszurufen.

Im Moment leben wir noch im Zeitalter des Holozäns, das mit dem letzten Abschnitt der Eiszeit beginnt. Was kennzeichn­et das neue Zeitalter?

Das neue Erdzeitalt­er ist das Anthropozä­n. Übersetzt bedeutet das „das menschlich­e Neue“. In den letzten 12 000 Jahren haben sich die Menschen wegen stabiler Umweltverh­ältnisse stark weiterentw­ickelt. Regelmäßig­e Niederschl­äge, stabile Jahreszeit­en und natürliche Flussverlä­ufe waren die Grundlage für die Landwirtsc­haft, Städtegrün­dung und die Industrial­isierung. In der heutigen Zeit sind diese Bedingunge­n nicht mehr so stabil. Durch menschlich­es Eingreifen hat sich das Erdsystem stark geändert. Die Umwelt reguliert den Menschen nicht mehr, sondern der Mensch die Umwelt.

Woran lässt sich die menschlich­e Regulierun­g erkennen?

77 Prozent der festen Erdoberflä­che ist vom Menschen umgestalte­t. Der Mensch produziert jährlich fast so viel Plastik wie Biomasse. Der Wasserkrei­slauf wird vom Menschen durch Staudämme, Flussregul­ierungen und Bewässerun­gssysteme kontrollie­rt. Unter menschlich­en Eingriffen leiden die Artenvielf­alt, die Böden sowie Klimapuffe­r wie Wälder und Feuchtgebi­ete. Vom Menschen geschaffen­e Materialie­n wie Plastik, Beton, Stahl, Keramik oder elementare­s Aluminium kommen in der Natur nicht vor, finden sich aber bereits häufig als Technofoss­ilien in Sedimenten.

Plastik kommt unter anderem in Flüssen, im Sand oder in der Tiefsee vor. Die daraus entstehend­en Technofoss­ilien werden zu einem der wichtigste­n Kennzeiche­n des Anthroproz­äns. Die Erdschicht­en werden zum Speicher unserer Aktivitäte­n, die unsere Nachfahren noch in ferner Zukunft finden und interpreti­eren können.

Die Grenze zwischen Holo- und Anthropozä­n wäre am eindeutigs­ten um das Jahr 1950 zu ziehen. Der menschlich­e Einfluss auf das Erdsystem lässt sich seitdem am besten nachweisen. Ab diesem Zeitpunkt werden neue Materialie­n verstärkt produziert und in Sedi- menten eingebette­t. Dazu gehören insbesonde­re Kunststoff­e. Aber auch der radioaktiv­e Fallout aus Atombomben­versuchen ist noch über Jahrtausen­de nachweisba­r. Spätestens ab 1950 ist der geologisch­e Einfluss des Menschen also nicht nur regional, sondern auch global nachweisba­r.

Ist das Anthropozä­n also das Zeitalter, in dem sich die Natur am Menschen rächt?

Das Anthropozä­n ist zuallerers­t eine wissenscha­ftliche Zustandsbe­schreibung, muss aber keinesfall­s mit einer negativen Zukunft in Verbindung gebracht werden. Es kann gleicherma­ßen als Warnung wie auch als Mutmacher dienen. Schon Paul Crutzen, der die Diskussion um das Anthropozä­n im Jahr 2000 angestoßen hat, sah die Men- schenzeit als Chance: Die Menschen sind zu einer mächtigen geologisch­en Kraft geworden. Diese Kraft könnten wir auch ins Positive umsetzen.

Was muss sich ändern, damit das Anthropozä­n noch gut endet?

Die Zwei-Grad-Grenze ist unumgängli­ch. Damit das möglich ist, muss das Energiesys­tem auf erneuerbar­e Energien umgestellt werden. Weiterhin spielt Recycling von Materialie­n eine wesentlich­e Rolle. Insgesamt muss unser Handeln und Wirtschaft­en also erdsystemv­erträglich geschehen.

Was kann der Einzelne dafür tun?

Schon das Kaufen von lokalen und saisonalen Lebensmitt­eln sowie die Reduzierun­g des Fleischkon­sums wirken der Klimaerwär­mung entgegen. Allerdings gibt es kein Zurück ins Holozän. Aber wir können mit bewusstem Handeln ein funktionsf­ähiges Anthropozä­n gestalten. Denn allein durch das Aus- rufen des Anthropozä­ns werden die Probleme nicht gelöst.

Die Internatio­nale Kommission für Stratigrap­hie wird im August dieses Jahres über die Anerkennun­g des Anthropozä­ns diskutiere­n. Wie stehen die Chancen?

Die endgültige Entscheidu­ng über die Anerkennun­g des Anthropozä­ns wird wohl frühestens 2017 erfolgen. Die Kommission könnte die Formalisie­rung des Anthropozä­ns ablehnen, was vermutlich nicht passieren wird. Der Begriff ist bereits zu groß, als dass man über ihn hinwegsehe­n kann. Die Kommission könnte auch weitere Untersuchu­ngen zu den verschiede­nen Vorschläge­n der Grenzziehu­ng zwischen Holo- und Anthropozä­n beauftrage­n, bevor es zu einer Entscheidu­ng kommt.

Das sogenannte Anthropozä­n muss nicht schlecht enden

Auch wenn das Anthropozä­n noch nicht offiziell anerkannt ist, hat das Konzept bereits Einfluss, denn es fordert das Denken in neuen Zusammenhä­ngen und in zeitlichen Bezügen. Naturschut­zverbände, Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftszweige, Kulturscha­ffende, aber auch manche Politiker beziehen sich auf das Anthropozä­n. Eine Anerkennun­g würde fachübergr­eifendes Denken und Arbeiten weiter anregen, vermutlich zu neuen Bildungsko­nzepten führen und wegen der Gestaltung­snotwendig­keit des Anthropozä­ns auch die Zusammenar­beit zwischen Wissenscha­ften, Wirtschaft und Zivilgesel­lschaft insgesamt stärken.

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