Terror unter Palmen
Am Abend des 14. Juli feiern 30 000 Menschen in Nizza stolz ihren Nationalfeiertag. Und dann rast Mohamed Lahouaiej-Bouhlel mit einem Kühllastwagen in eine Zuschauermenge. Ein Massenmord an 84 Menschen. Ist es die Tat eines wahnsinnigen Einzeltäters? Oder
Es ist ein strahlender Freitagmorgen in Nizza. Und Isabelle Granger trägt ihre Sonnenbrille nicht nur, weil die Sonne sie blendet. Sie dient ihr als Schutz, der helfen soll, die Fassung zu bewahren. Was sie in der Nacht zuvor erlebt hat, war kein Albtraum, sondern unfassbare Realität. „Es bleibt mir – in Zeitlupe – das Bild von diesem weißen Lastwagen hinter mir im Kopf, der wie ein Zug fährt; der einfach nicht anhält. Und der lauter Menschen unter sich begräbt“, erzählt die Frau und wischt sich hinter den dunklen Gläsern mit einem Taschentuch über die Augen.
Schüsse fallen und Menschen laufen in Panik in alle Richtungen, erinnert sie sich. Sie und ihr Mann befreien sich aus der Masse auf der Strandpromenade, wo gerade noch gefeiert wurde. Sie retten sich in den Keller eines Hauses. „Es sind Gerüchte aufgekommen, dass es sich um Terroristen mit Gewehren handelt. Wir haben im Dunkeln ausgeharrt. Und haben keinen Mucks von uns gegeben. Die Frauen und Kinder haben geweint, alle hatten Angst, auch die Männer.“
Doch es ist nicht eine Gruppe von Fanatikern, sondern ein einzelner Mann, der so viel Unheil anrichtet: Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, ein 31-Jähriger, geschiedener Vater von drei Kindern, der in Tunesien geboren ist und in Nizza wohnt. Man weiß nicht viel über Bouhlel – nur, dass er nach den Erkenntnissen der französischen Polizei nicht als politisch radikalisiert registriert ist. Auch von Kontakten zu islamistischen Gruppierungen ist bei den Behörden nichts bekannt. Ein Bekennerschreiben taucht zunächst nicht auf.
Nachbarn beschreiben Bouhlel als einen „ruhigen, schweigsamen Einzelgänger“. Grüße habe er nicht erwidert und keinerlei Anzeichen von Religiosität gezeigt. Sie haben ihn oft in kurzen Shorts gesehen, an religiöse Kleidung erinnert sich vor Ort niemand. Am Freitagvormittag wird seine Wohnung im Norden Nizzas durchsucht. Bouhlel war Kurierfahrer, laut der Tageszeitung
Le Figaro wegen Gewaltdelikten – unter anderem wegen einer Schlägerei nach einem Verkehrsunfall – vorbestraft und auf Bewährung frei.
Bouhlels Ausweis wird in dem Lastwagen gefunden, den er zwei Tage in Saint-Laurent-du-Var, der Partnerstadt von Landsberg am Lech, angemietet hat. In dem Kühllastwagen werden außerdem Waffenattrappen und unwirksame Granaten entdeckt. In der Fahrerkabine stellen die Ermittler anhand von Fingerabdrücken fest, dass es sich um den getöteten Täter handelt.
Es ist ein großes Rätsel, was den Mann angetrieben hat, als er gegen halb elf Uhr abends am Donnerstag mit einem Lastwagen die Absperrgitter vor der Promenade des Anglais durchbricht. Er rast mit dem weißen 19-Tonner auf eine der bekanntesten Flaniermeilen Europas, die von prächtigen Luxushotels gesäumt ist. Dort, wo sonst Einheimische, Touristen, Jogger oder Inlineskater das Mittelmeer-Panorama genießen, gibt er Gas und pflügt etwa zwei Kilometer weit durch die Menge – ohne zu bremsen. Rund 30000 Menschen befinden sich zu diesem Zeitpunkt auf der mondänen, mit Palmen bepflanzten Uferstraße, auf die die Stadt an der Côte d’Azur so stolz ist.
Von dort hat man einen guten Blick auf das Feuerwerk am 14. Juli, Frankreichs Nationalfeiertag, der traditionell groß gefeiert wird. Bis in das Spektakel Schüsse knallen. „Erst dachte ich, es handelt sich um Böller, doch als die Leute anfingen zu brüllen und in alle Richtungen zu laufen, war mir klar, dass hier etwas nicht stimmt“, sagt ein Augenzeuge später. Die Schüsse kommen nicht nur von dem mit einer Pistole bewaffneten Täter, der dreimal auf die Polizisten zielt. Sie kommen auch von den Beamten, die den Lastwagen verfolgen, um ihn zu stoppen. Als ein couragierter Passant laut Medienberichten auf das Fahrzeug springt, gelingt es ihnen, Bouhlel am Steuer zu töten. Über eine zwei Kilometer lange Strecke reißt der am Steuer des Lasters zuvor alles mit, was sich vor ihm auftut: Bäume, Blumenstöcke – vor allem aber viele Menschen. Mindestens 84 Personen kommen ums Leben, unter ihnen zehn Kinder und Jugendliche und auch viele Ausländer. Insgesamt 202 Menschen seien verletzt.
Die südfranzösische Hafenstadt Nizza ist ein beliebtes Reiseziel zu dieser Jahreszeit, da es von BilligAirlines angeflogen wird. Zahlreiche Schulklassen sind offenbar auf Klassenfahrt in der Stadt an der legendären Côte d’Azur, mindestens auch zwei Gruppen aus Bayern: eine aus Garmisch-Partenkirchen und eine aus München. Ihnen ist nichts passiert. Florian Graf, der Fraktionschef der Berliner CDU, nennt es am Freitag allerdings „eine traurige Gewissheit, dass unter den Opfern auch eine Berliner Lehrerin und zwei Berliner Schülerinnen sind“.
Für sie sollte die Reise in die prächtige Hafenstadt in Südfrankreich der Höhepunkt des Schuljahres und der krönende Abschluss nach dem bestandenen Abitur werden. Zwei Schülerinnen und eine Lehrerin der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule aus Berlin-Charlottenburg sind bei dem Anschlag also gestorben, ein weiterer Schüler muss im Krankenhaus operiert werden. Das zuständige Bezirksamt bestätigt auf seiner Internetseite den Tod der Deutschen.
Die übrigen Schüler der Abschlussklasse sind am Freitag in das Hotel bei Nizza zurückgekehrt, in dem sie untergebracht sind. Seit Montag waren die 28 Schülerinnen und Schüler der erst 2009 gegründeten Gemeinschaftsschule, in der Kinder von der ersten bis zur 13. Klasse unter einem Dach unterrichtet werden, auf einer Kursfahrt in Nizza. Als die schlimme Nachricht aus Frankreich eintrifft, dass die Deutschlehrerin und zwei Mädchen vermisst werden, wird die Schule unverzüglich geschlossen, alle Kinder werden nach Hause geschickt, zudem wird ein eigener Trauerraum eingerichtet. Psychologen und Seelsorger betreuen Schüler und Lehrer.
Vor dem Schulgebäude spielen sich dramatische Szenen ab, die Polizei musste das Gelände absperren. „Berlin trauert mit allen, die durch den Anschlag Angehörige verloren haben“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Gleichzeitig verurteilt er diesen mörderischen Anschlag auf das Schärfste. „Diese Tat ist ein Angriff auf unsere Art zu leben, auf unsere Freiheit, auf unsere Werte und auf unsere Demokratie.“Auf der französischen Botschaft am Brandenburger Tor weht die Trikolore auf halbmast, Berliner legen Blumen vor dem Gebäude nieder und zünden Kerzen an. Ein Fest, das die französische Vertretung am Freitag aus Anlass des Nationalfeiertags feiern wollte, wird abgesagt.
In Nizza herrscht Fassungslosigkeit und tiefe Trauer. Erst am Morgen nach der Horrornacht können alle Leichen weggebracht werden, die zugedeckt auf der Straße und den Gehsteigen liegen. Ein Fotograf hält das erschütternde Bild von einer rosa gekleideten Puppe neben einem kleinen, verhüllten Körper fest. Es war die Puppe eines Mädchens, das wohl einen seiner ersten Nationalfeiertage erlebt – und nicht überlebt hat. Fast 60 Kinder werden ins Krankenhaus eingeliefert. Präsident Hollande spricht am Freitagnachmittag von rund 50 Personen, die noch in Lebensgefahr sind.
„Es ist das schlimmste Drama in der Geschichte von Nizza“, erklärt Christian Estrosi, der Präsident des zuständigen Regionalrates und bis vor kurzem Bürgermeister der Stadt. Eigentlich ist Ferienzeit und damit Hochsaison in Südfrankreich; doch am Tag danach ist die Promenade ausgestorben. Jene Urlauber, die in Badekleidung und mit ihren grellbunten Luftmatratzen unter dem Arm zum Stadtstrand gehen, wirken seltsam fehl am Platz. Auf den Nationalfeiertag, eigentlich ein fröhlich zelebriertes Ereignis, folgen drei Tage Staatstrauer.
Estrosi sagt, es sei zwar nicht „der Moment der Polemik“, aber er stelle sich schon Fragen: Warum und wie hat der Attentäter auf die Promenade des Anglais fahren können, die doch eine Fußgängerzone ist? Wie viele Polizisten schützten die Veranstaltung, wo sie doch schon seit Monaten Verstärkung fordern und die Polizeipräsenz für nicht ausreichend halten? Zugleich hatte sich gerade Estrosi in seiner Zeit als Bürgermeister von Nizza für deren umfangreiche Ausstattung mit fast 1250 Video-Überwachungskameras stets gerühmt. Medien zufolge handelt es sich um die am besten ausgerüstete Stadtpolizei Frankreichs.
Als eine der zehn Austragungsstädte der Fußball-Europameisterschaft wurde für Nizza ein Sicherheitsplan ausgearbeitet, bei dem nicht nur das Umfeld des Stadions, sondern auch die Fanmeile unweit der Strandpromenade und die Innenstadt stark überwacht werden. Dazu gehörten auch Simulationsübungen für Polizei- und Hilfskräfte. Dem regionalen Unterpräfekten François-Xavier Lauch zufolge hat man sich auf nukleare, bakteriologische und chemische Attacken und vom Meer kommende Angriffe vorbereitet.
Einen brutalen Lastwagenanschlag hatte man nicht auf dem Schirm. Die Touristenhochburg Nizza, die im Februar den drittgrößten Karneval der Welt nach Rio und Venedig ausrichtet, gilt seit längerem als Hochburg der Dschihadisten. Aufgrund ihrer geografischen Lage am Mittelmeer hat sie einen hohen Anteil an Einwanderern aus dem Maghreb und vor allem an radikalisierten jungen Männern. Rund 55 Personen sind bekannt, die nach Syrien, in den Irak oder Libyen ausgereist sind. Bereits vor ein paar Jahren wurden Attentatspläne auf größere Massenansammlungen in Nizza aufgedeckt und offenbar nur knapp zuvor von den Behörden verhindert.
Im Februar hatte ein Mann drei Soldaten vor einem jüdischen Zentrum in der Innenstadt mit dem Messer angegriffen. In Nizza soll auch der radikale Hassprediger Omar Diaby alias Omar Omsen, der der salafistischen Al-Nusra-Front in Syrien nahesteht, Männer für den Dschihad trainiert haben. In einem kürzlich im Fernsehen ausgestrahlten Interview rechtfertigte er den Mord an Zivilisten mit den französischen Luftschlägen gegen Frauen und Kinder in Syrien. Seit Verhängung des Ausnahmezustandes im November wurden fünf Gebetssäle geschlossen, in denen offenbar Hass verbreitet wurde.
Doch hatte Mohamed Bouhlel Kontakte in die islamistische Szene? Hatte er Komplizen? Wie kam es zu der Tat? Man weiß es nicht.
Der 31-Jährige war ein schweigsamer Einzelgänger Eine rosa gekleidete Puppe liegt neben einem toten Kind