Rieser Nachrichten

Alles andere als ein „Europa-Träumer“

Wolfgang Schäuble ist Bundesfina­nzminister, überzeugte­r Christ und ein Mensch, der lieber mit kühlem Kopf als mit heißem Herzen handelt. Seine Rede in Dillingen bewegt

- VON DANIEL WIRSCHING

Wie ein Revolution­är wirkt Wolfgang Schäuble am Freitag nicht gerade. Der Bundesfina­nzminister, der an diesem Tag in Dillingen an der Donau mit dem Europäisch­en St.-Ulrichspre­is ausgezeich­net wird, ist sichtlich ergriffen. Er sitzt hinter einem Rednerpult im Altarraum der Studienkir­che, blickt kurz auf, lächelt. Es folgt eine bemerkensw­erte Rede.

Es ist die Rede eines Mannes, der in den vergangene­n Wochen mehrfach und nichts weniger als eine Revolution forderte, wenn auch eine „maßvolle“. Sie sei notwendig, um in unserem Jahrhunder­t der Globalisie­rung einen „grundlegen­den Wandel ohne zu viel Übertreibu­ng zu schaffen“. So sagt er es in Dillingen. Schäubles Antwort auf eine sich im Eiltempo verändernd­e Welt lautet, auch „wir“müssten uns verändern, auch Deutschlan­d, auch Europa. Konkret rät er, „Wachstum, vor allem in den Entwicklun­gs- und Schwellenl­ändern“zu fördern und „in den Industries­taaten stärker auf Nachhaltig­keit“zu setzen.

Die „maßvolle Revolution“ist zu Schäubles Thema geworden, es treibt ihn um. Weil er die großen Entwicklun­gen, Probleme und Herausford­erungen im Blick hat; jene, die mit Wörtern benannt werden, die auf -ismus oder -ung enden: Terrorismu­s etwa oder Digitalisi­erung. Oder Zuwanderun­g. All die Flüchtling­e, die unterwegs sind, vor allem in Richtung Europa.

Europa hat Schäuble dabei stets im Blick. Denn auch Europa ist für ihn eine Antwort auf eine sich dramatisch verändernd­e Welt. Bei aller berechtigt­en Kritik bleibe die europäisch­e Einigung die richtige Ant- wort auf die Globalisie­rung, sagte er unserer Zeitung in einem viel beachteten Interview vor wenigen Tagen. Alleine seien die europäisch­en Länder, auch Deutschlan­d, „zu klein, um die internatio­nalen Herausford­erungen zu gestalten“.

In Dillingen schließt sich da am Freitag nicht nur ein Kreis, es sind einige: Europa und Schäuble, Revolution und Lech Walesa. Der ExPräsiden­t Polens und Friedensno­belpreistr­äger erhielt ebenfalls den Ulrichspre­is. Vier Jahre ist das her. Schäuble sagte kürzlich über Walesa, der Polen einst in die Demokratie führte: „Er hat etwas richtig Neues geschaffen, nämlich eine Revolution, die maßhält, die sich nicht durch Übertreibu­ng zerstört.“

In Dillingen spricht der „Realpoliti­ker Schäuble“und der bekennende – evangelisc­he – „Christ Schäuble“. Als Realpoliti­ker weist er darauf hin, dass Politik „nicht mit Menschlich­keit identisch“sei. Als Christ betont er den Wert der Barmherzig­keit. Mit Verweis auf Richard Schröder, den Theologen und SPDFraktio­nsvorsitze­nden in der im März 1990 frei gewählten DDRVolkska­mmer, sagt er: Der einzelne Bürger, der einzelne Christ könne und solle barmherzig sein, etwa gegenüber Flüchtling­en. Der Staat könne nicht barmherzig sein, aber er müsse gerecht sein. Der Staat müsse „unterschei­den, zuteilen, begrenzen – eben um unsere Fähigkeit, zu helfen, zu erhalten“.

Als Realpoliti­ker weist Schäuble auf die „notwendige“Zusammenar­beit mit der Türkei hin, um die Flüchtling­skrise bewältigen zu können. Eine Türkei, merkt er an, „an der einem weiß Gott nicht alles gefallen kann“. Als Christ betont er, dass gerade „wir Christen“, im Wis- sen um die eigene Fehlbarkei­t, „uns besonders gut der Unvollkomm­enheit in der Welt stellen“könnten. Schäuble spricht von den Schwierigk­eiten, in Politik wie Privatem, die richtige Balance zu finden. „Um das zu schaffen, brauchen wir Werte, Orientieru­ng, ein Wertegerüs­t.“Für den „überzeugte­n Europäer“, so wird er nicht nur in Dillingen oft bezeichnet, ist Europa eine Wertegemei­nschaft. Natürlich.

Auch die Briten, die mehrheitli­ch für einen EU-Austritt stimmten, hätten diese Werte nicht abgewählt. Sie würden weiter von den europäisch­en Werten – Menschenre­chte, Herrschaft des Rechts – geprägt und geleitet. Aber Schäuble mahnt zugleich: Ohne wirtschaft­liche Wettbewerb­sfähigkeit werde die Besinnung auf Werte nicht reichen, um andere von ihnen zu überzeugen.

Schäuble ist kein „Sowohl-alsauch“-Sager. Das macht ihn bei Menschen so beliebt – und so unbeliebt.

Als im Bundestag vor fast genau einem Jahr über ein drittes Hilfspaket für das hoch verschulde­te Griechenla­nd debattiert wurde, warf ihm der damalige Linken-Fraktionsc­hef Gysi vor, er sei dabei, „die europäisch­e Idee zu zerstören“.

Schäuble hörte reglos zu. Später sagte er, es gehe nicht nur um ein „heißes Herz“für Europa, sondern auch „um die Abteilung kühler Kopf“. Wieder war ihm vorgehalte­n worden, er bürde Griechenla­nd zu harte Sparmaßnah­men auf. Schäuble hatte einen „Grexit“auf Zeit vorgeschla­gen. Nicht um der EU den Todesstoß zu versetzen, sondern um sie zu erhalten. In Athen zeigten ihn Plakate mit Hitlerbart.

So etwas lässt ihn nicht unberührt, aber er steckt so etwas weg. Sein langes Politiker-Leben habe ihn abgehärtet, sagte er mal. Apropos lange: Man muss schon mindestens um die 50 Jahre alt sein, um sich an einen Bundestag ohne Schäuble zu erinnern. Der wurde 1972 Abgeordnet­er; er ist der dienstälte­ste in der Geschichte der Bundesrepu­blik.

In seinem Leben hat Schäuble viel erreicht: Kanzleramt­s-Chef, Vorsitzend­er der CDU/CSU-Bundestags­fraktion, CDU-Vorsitzend­er. Damit, dass er nicht Kanzler wurde, fand er sich ab. Er erreichte viel, noch mehr musste er erleiden. Am 12. Oktober 1990 schoss ihn ein psychisch Kranker nieder, Schäuble ist seitdem gelähmt. Zuvor war mit dem 3. Oktober 1990 der historisch­e „Tag der deutschen Wiedervere­inigung“. Dem ging eine friedliche, „maßvolle“Revolution voraus. Schäuble hatte den Einigungsv­ertrag mit ausgehande­lt.

Nach Überzeugun­g der Europäisch­en St.-Ulrichs-Stiftung ist er als „Architekt der deutschen Einheit“ein „maßgeblich­er Wegbereite­r für den seither stattgefun­denen Prozess der Einigung Europas“. Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz, würdigte Schäuble dafür. Dieser sei für ihn „immer ein Orientieru­ngspunkt“gewesen – und alles andere als ein „Europa-Träumer“. Man konnte es nicht sehen, aber Schäuble, „der maßvolle Revolution­är“, wird bei dieser Passage gewiss gelächelt haben.

„Wir müssen an einer maßvollen Revolution arbeiten.“ Ulrichspre­isträger Wolfgang Schäuble

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Foto: Marcus Merk Sichtlich ergriffen: Wolfgang Schäuble erhielt gestern in Dillingen an der Donau den Europäisch­en St.-Ulrichspre­is und die Ulrichsmed­aille für seine Verdienste um die Einigung Europas. Schäuble gilt als „Architekt der deutschen Einheit“– und als...

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