Erich Hackl – Familie Salzmann (30)
Einmal war er ohne Vorankündigung bei ihr eingetroffen, hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und mit verstellter Stimme gefragt: Frau Fuchs, ist ein Bad frei?
War das eine Umarmung. Sie ist immer in meinem Herzen geblieben.
„Wenn Du schon nicht kommen kannst“, schrieb Ernestine, „fahre ich Dir ein Stück entgegen. Treffen wir uns doch bei der Ria Apfelkammer in München.“
Er war froh über diesen Vorschlag, nicht nur, weil ein Sommer ohne sie für ihn kein richtiger Sommer war; er hatte immer noch den Drang in sich, seine Mutter zu finden, in den Geschichten der Frauen, die mit ihr in Ravensbrück gewesen waren. Aber Ria erzählte wenig, gerade nur, daß Juliana tatsächlich, wie Paula Weigel geschrieben hatte, eine Zeitlang in der Nähwerkstätte gearbeitet habe und daß sie im Krankenrevier buchstäblich in ihren Armen gestorben sei. Die Augen hat ihr wer anderer zugedrückt, sagte
sie. Dann stand sie vom Tisch auf und räumte die Teller weg. Hugo half ihr dabei.
Da war ein kleines Mädchen, sagte Ria, während sie in der Küche hantierten. Vier oder fünf Jahre alt. Vielleicht war sie auch schon sieben. Man hätte sie fragen können. Aber wer kam dort schon auf die Idee, ein Kind nach seinem Alter zu fragen. Hauptsache, es war noch da. Sie stammte aus der Sowjetunion. Ukraine, glaube ich. Ihre Mutter, keine Ahnung, wann und wie sie zugrunde gegangen ist.
Juliana hat sich um das Mädchen bemüht. Irgendwie hat sie es geschafft, daß die Kleine auf ihren Block gekommen ist. Sie waren unzertrennlich. Irgendwann war Juliana wieder allein. Ich habe nicht gefragt. Wozu auch.
Hugo hätte sich, nach seiner Rückkehr aus München, mit seinem Vater gern ausgesprochen. Dann ließ er es sein. Er hört mir ja gar nicht zu. Gerade, daß er sich nach Ernestines Befinden erkundigt hat- te. Auf den Gedanken, sie nach Bad Kreuznach einzuladen, war er nicht gekommen. Auch die eigenen Verwandten bedeuteten ihm wenig, jedenfalls hielt er es nicht für nötig, seinen Sohn mit ihnen bekannt zu machen. Nur den Kontakt zu Tilla wollte er, nach allem, was sie für ihn und Juliana getan hatte, nicht unterbinden.
Hugo erinnert sich ihrer als einer dunkelhaarigen flinken Frau, ihrer Tochter Brigitte als eines pausbäckigen lebhaften Mädchens. Er habe sie gern besucht, sie seien immer sehr nett zu ihm gewesen. Kein einziges Mal, wo er von seiner Tante nicht bewirtet worden wäre. Wenigstens einen Kaffee wirst du mit uns trinken. Oder willst du lieber Tee? Und nimm von den Keksen. Dabei hat sie als Heimarbeiterin jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen, sagt Hugo.
In der kleinen Wohnung stapelten sich gestanzte Platten, aus denen Tilla Plastikkämme schneiden und an den Kanten abfeilen mußte. Von ihrem Vater, seinem Großvater, wußte Hugo nicht mehr, als daß er in Mylau lebte, im Vogtland, und früher Glasbläser gewesen war. Er hat geschrieben, jedesmal dringlicher, wir sollen ihn besuchen kommen, aber dafür hat sich mein Vater nie Zeit genommen.
Hingegen verwendete Salzmann viel Energie darauf, Naziverbrecher auszuforschen. Einmal, erinnert sich Hugo, ging sein Vater einem vertraulichen Hinweis nach, demzufolge die frühere Lagerärztin Oberheuser unter falschem Namen in einer Klinik irgendwo in der Oberpfalz praktiziere.
Herta Oberheuser, die in Ravensbrück Hunderte Frauen für qualvolle Experimente mißbraucht und mit Benzininjektionen getötet hatte. Salzmann verständigte Lore Wolf, gemeinsam fuhren sie zur Klinik, fruchtlos, wie sich herausstellte, weil sie einer Verwechslung aufgesessen waren.
Als, fünf Jahre später, die Marquise de Villevert gegen das Land Rheinland-Pfalz auf Rückerstattung ihres Vermögens klagte, das die nationalsozialistischen Behörden eingezogen und zwangsversteigert hatten, verfolgte Salzmann den Prozeß bereits als ohnmächtiger, verbitterter Zeitungsleser.
Villeverts Denunziantentum kam im Gerichtsverfahren nur am Rand und in den Presseberichten gar nicht zur Sprache.
Das wäre ja auch möglich gewesen: daß Salzmann seinen Sohn zum Teilhaber der eigenen Unrast gemacht hätte. Daß er zu ihm gesagt hätte: Komm, fahr mit. Oder: Das ist wichtig. Ich muß da jetzt hin. Dich kann ich leider nicht mitnehmen. Aber Hugo erfuhr von der Suche nach Oberheuser erst, als sie erfolglos abgebrochen worden war. Er zählte nicht, er zählte nur, wenn es an ihm was zu bemängeln gab.
Auch dafür sorgte er, so weit ging sein Entgegenkommen. Während seiner Lehrzeit war er einmal vierzehn Tage lang von zu Hause weggeblieben, bei zwei Straßenkehrern untergetaucht, mit denen er sich angefreundet hatte. Da war sein Vater gezwungen gewesen, an ihn zu denken. Wo er wohl geblieben sei.
Nach Feierabend suchte er manchmal die Blaue Grotte auf, ein mit viel Pappmaché drapiertes Tanzlokal, in dem sich eine große glitzernde Plastikkugel drehte. In ihm verkehrten gerne Besatzungssoldaten, zwischen denen ein unsichtbarer Graben verlief.
Da die schwarzen, zu denen sich Hugo setzte, drüben die weißen. Höhnische Zurufe von Tisch zu Tisch. Kleine Rempeleien beim Tanzen, mit Absicht oder aus Versehen, Vorzeichen einer Massenschlägerei.
Der Wirt, der rechtzeitig dazwischenging und die Kampfhähne mit einer Freirunde beschwichtigte. War es dafür zu spät, klemmte er sich ans Telefon. Eine halbe Stunde später, wenn von der Einrichtung wenig ganz geblieben war, fuhr eine Militärstreife vor, schleifte die sturzbetrunkenen blutenden Männer aus dem Lokal und verstaute sie wie Holzklötze in ihren Jeeps. Hugos Vater am nächsten oder übernächsten Morgen, knapp am Schreien, wie Hugo sagt: Ich hab gehört, daß du dich schon wieder wo rumgetrieben hast.
Es gab das eine oder andere Mädchen, das ihm gefiel, dem er gefiel, das von ihm erwartete, daß er es seinen Eltern vorstellte. Aber er durfte es nicht nach Hause mitbringen, in eine Familie, die weiterhin nichts mit ihm anzufangen wußte, die nicht da war, wenn er sie gebraucht hätte. Wie damals, als er mit vereitertem Blinddarm allein zu Hause gewesen war. Die Nachbarin hatte ein Taxi gerufen, das ihn gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus brachte.
Mehr als die Schmerzen plagten ihn während der Fahrt die Vorhaltungen, die ihm sein Vater machen würde. Hättest du nicht auch mit dem Bus fahren können. Eine Einladung aus Italien erging, in ein Erholungsheim für Widerstandskämpfer und ihre Angehörigen. Salzmann hatte keine Zeit, also meldete er seine Frau und die kleine Juliane an. Auf den nächstliegenden Gedanken, Hugo zu schicken, kam er nicht. Am Ende gratulierte er ihm nicht einmal mehr zu seinem Geburtstag. »31. Fortsetzung folgt