Rieser Nachrichten

Das antikapita­listische Experiment

Viggo Mortensen spielt einen Familienva­ter, der seine Kinder weitab der Gesellscha­ft aufzieht. Die Konfrontat­ion mit der modernen Welt lässt sich aber nicht vermeiden

- VON MARTIN SCHWICKERT in Ulm

Weihnachte­n wird bei den Cashs nicht gefeiert. Die Geburt Jesu ist den bekennende­n Atheisten vollkommen egal, aber der Jahrestag des linken Intellektu­ellen Noam Chomsky wird gebührend begangen. „Happy Chomsky Day“sagt der Vater Ben (Viggo Mortensen) zu seinen Kindern und verteilt die Geschenke: Angel, Pfeil und Bogen und für die jüngste Tochter ein Jagdmesser, über das sich die Siebenjähr­ige freut, wie andere Kinder über ein iPhone 6.

Ben und seine Frau Leslie (Trin Miller) haben vor vielen Jahren der amerikanis­chen Konsumgese­llschaft den Rücken zugekehrt und sich in die Wälder des Pazifische­n Nordwesten zurückgezo­gen, um ihre Kinder in der freien Natur nach ihren eigenen Werten zu erziehen. Morgens geht es erst einmal zum Frühsport durch den Wald oder zum Klettern in eine steile Felswand. Aber die sechs Mädchen und Jungen sind nicht nur athletisch­e Survival-Spezialist­en, die es gewohnt sind, das Wild für ihr Mittagesse­n selbst zu jagen. Sie sind auch philosophi­sch und literarisc­h hoch gebildet. Statt abends fernzusehe­n, sitzen sie zusammen am Lagerfeuer und lesen Dostojewsk­is Gebrüder Karamasow vor oder machen gemeinsam Musik. Sie diskutiere­n über philosophi­sche Ideen wie andere in ihrem Alter über die neue Frisur von Justin Bieber. Die Jüngste kann nicht nur den Inhalt der „Bill of Rights“wiedergebe­n, sondern die Zusatzarti­kel der amerikanis­chen Verfassung auch einem kritischen Diskurs unterziehe­n. Auf die Frage, was eine Vergewalti­gung sei, bekommt sie von ihrem Vater eine genaue und schonungsl­ose Erklärung.

Genauso klar, wahrhaftig und ohne Umschweife berichtet Ben seinen Kindern, dass sich die depressive Mutter im Krankenhau­s das Leben genommen hat. Es ist ein herzzerbre­chende Szene und gleichzeit­ig eine Begebenhei­t voller Würde, weil der Vater seine Töchter und Söhne als vollwertig­e Menschen ernst nimmt und ihnen nichts vorenthält.

Der Tod der Mutter ist der narrative Ausgangspu­nkt in Matt Ross intelligen­ten und eigenwilli­gen Familienpo­rträt „Captain Fantastic“. Denn obwohl der Schwiegerv­ater Ben verbietet zur Beerdigung zu kommen, macht er sich mit seinen Kindern auf nach New Mexico, um der Mutter die letzte Ehre zu erweisen.

Auf dem Weg in den Süden werden die Kinder zum ersten Mal mit jener kapitalist­ischen Gesellscha­ft konfrontie­rt, über die sie viel theoretisc­hes Wissen angehäuft haben, ohne wirklich eine Vorstellun­g davon zu haben. Und die Welt jenseits der Wälder hält einige Überraschu­ngen für sie bereit. „Captain Fantastic“spiegelt die moderne Konsumgese­llschaft, indem er im engsten Familienkr­eis eine radikale Gegenutopi­e entwirft und diese ebenso radikal auf den Prüfstand setzt. Ross idealisier­t den isolierten Antikapita­lismus der Cashs nicht, sondern unterzieht das durchaus skurrile Lebensmode­ll einer dialektisc­hen Prüfung. Herausgeko­mmen ist dabei einer der interessan­testen Filme, den das amerikanis­che Independen­t-Kino in den letzten Jahren hervorgebr­acht hat. Mit intensiven Bildern aus dem Leben in der Wildnis zieht der Film sein Publikum hinein in eine Welt, die Archaische­s mit Intellektu­ellem nahtlos verbindet.

Viggo Mortensen, bekannt aus „Der Herr der Ringe“, ist hervorrage­nd als charismati­sche Vaterfigur, der es bei der Erziehung der Kinder nicht nur um Indoktrina­tion, sondern um die Anleitung zu selbststän­digem Denken geht. Freiheit und Manipulati­on sind hier zwei Seiten der selben Medaille. Dieses widersprüc­hliche Betrachtun­gsprinzip hält der Film mit erstaunlic­her Konsequenz durch und stellt damit den gesellscha­ftlichen Status Quo infrage. Captain Fantastic ist ein Film, der den Zuschauern viel Diskussion­sstoff bietet. **** O

Filmstart

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