Turmbau mit Tücken
Kirchenserie Vor 500 Jahren begann die Errichtung des Lauinger Martinsmünsters. Nicht alles lief dabei glatt. Und das Gotteshaus hat noch mehr Geheimnisse
Da ist dieses kleine Häuschen mit dem blauen Zaun. Es wirkt beinahe wie ein Miniatur-Modell, das sich in den Schatten der gewaltigen Kirche duckt. Davor steht Gerhard Reich, wischt sich eine Schweißperle von der Stirn und streicht mit einem Pinsel eine kleine Steinmauer. Seit 40 Jahren lebt er hier, nur wenige Schritte vom Lauinger Martinsmünster entfernt. Nicht nur die physische Nähe verbindet ihn mit der Kirche, er hat auch eine emotionale Beziehung zum Lauinger Gotteshaus. „Im Martinsmünster hat schon meine Kommunion stattgefunden“, sagt Reich. Und damals, als die Kirche renoviert wurde, von oben bis unten eingerüstet war, da half sein Sohn auf der Baustelle. Die Glocken, nein, die höre er nicht. „Der Schall geht auf die andere Seite“, sagt Reich und streicht weiter seine Mauer.
Es ist eine beinahe meditative Stille, die in der kleinen Straße hinter der Kirche zu spüren ist. Die Mauern des Martinsmünsters ragen in den sommerblauen Himmel empor. Seit beinahe 500 Jahren steht das Gotteshaus dort, überragt die Häuschen der Lauinger Altstadt. Im Jahr 1516 wurde mit dem Bau der spätgotischen, dreischiffigen Hallenkirche begonnen. 1522 wurde sie vollendet. Sie wurde an der Stelle gebaut, an der früher eine romanische Kirche stand. Und noch früher, etwa zur Zeit der fränkischen Missionierung im 8. Jahrhundert, soll es dort ein kleines Holzkirchlein gegeben haben.
Einer, der sich mit der Historie des Gotteshauses auskennt, ist Bernhard Ehrhart, der Leiter des Lauinger Heimathauses. Er steht vor dem Südportal, sein Blick schweift nach oben, entlang der Mauern des Kirchturms, der in 56 Metern Höhe endet. „Der Turm war so konzipiert worden, dass er in die Kirchenmauer eingreift, mit ihr verschmilzt“, sagt Ehrhart. Nach nur einem Jahr aber zeigten sich Risse, die Mauer konnte der Spannung nicht standhalten. Der Bau musste eingestellt werden. Man war ratlos. Dann erkannten die Baumeister, dass sie den Turm vom Mauerwerk trennen müssen. Und als im Jahr 1521 bereits der Dachstuhl auf das Gebäude gesetzt wurde, war der Turm da erst klägliche sechs Meter hoch. „Das war ein Theater, sie wurden einfach nicht fertig“, sagt Ehrhart. Erst im Jahr 1576 hatte die Kirche dann auch einen stattlichen Turm – bei dem noch heute zu sehen ist, dass es immer wieder Probleme gab. „Das letzte Geschoss über der Uhr ist viel kürzer als die anderen. Da wurde improvisiert“, sagt Ehrhart. Dann dreht er sich um, läuft zur Westflanke. Auf der anderen Seite der Straße ist ein kleiner Turm zu sehen, der den Verlauf der ehemaligen Stadtmauer anzeigt. Und vom Wehrgang der Mauer aus gab es früher eine kleine Holzbrücke, die zu einem oberen Portal in fünf Metern Höhe führte und weiter zur Empore. „Vielleicht hatte man diese Brücke, um bei Gefahr schneller in die Kirche zu kommen“, sagt Ehrhart. Heute ist das Portal zugemauert.
Mit einem leisen Knarren öffnet sich die schwere Tür der Kirche. Müde Sonnenstrahlen dringen durch die gotischen Glasfenster, in denen auch ein Abbild des heiligen Martin zu sehen ist, und tauchen den Innenraum in mattes Licht. „Für damals 4000 Bewohner war diese Kirche schon gigantisch“, sagt Ehrhart, der früher einmal Geschichtslehrer am Lauinger Gymnasium war. Drei gleich große Schiffe laufen auf drei angedeutete Chöre zu, mit vier roten Säulen wurde der Chor in der Mitte herausgehoben. Und dann gibt es da noch dieses Kuriosum: Von hinten nach vorne zum Altarraum werden die Bilder immer kleiner. Aber die Erklärung ist einfach: Das Geld war knapp geworden.
Ehrhart setzt sich in eine der alten Kirchenbänke, lässt seinen Blick durch das Gotteshaus schweifen und sagt: „Das Martinsmünster hat ein paar Eigenheiten.“Zum einen ist das das Farbkonzept. Ursprünglich war der Boden einmal rot, passte zu den rot marmorierten Säulen. Geändert wurde das erst bei der neugotischen Renovierung um 1900. Auch die Mauern hatten durch Ziegelmehl einen leicht rötlichen Schimmer. Eine andere Besonderheit sind die kleinen Löcher an der Decke – eine Art Prototyp eines modernen Lüftungssystems. Die verbrauchte Luft konnte abziehen, die Wärme wurde über das Dach nach außen geleitet. Weil aber später ein Windfang gebaut und die Gauben geschlossen wurden, konnte der Dampf nicht mehr aus dem Dachstuhl entweichen und bildete Schimmel. „1980 hat man erkannt, dass es nicht mehr geht. Der Dachstuhl musste stabilisiert werden. Für etwa drei Millionen Mark“, sagt Ehrhart. Fast alles, was man heute in der Kirche sieht, hat nichts mehr mit dem Originalzustand im 16. Jahrhundert zu tun. Vieles wurde in der Reformationszeit zerstört. Später dann wurde die Kirche mit barocken Werken ausgestattet, und um 1900 wurde sie neugotisch renoviert.
Der Schritt hinaus ist wie ein Schritt in eine andere Welt. Warme Luft verdrängt die Kühle der Kirche. Und auf der anderen Seite der Straße steht Gerhard Reich und streicht die Steinmauer neben dem Haus mit dem blauen Zaun.
Erst viele Jahre später war der Kirchturm fertig Prototyp eines modernen Lüftungssystems