Und es werde Licht
Vor 200 Jahren kamen die ersten Gaslaternen in die Straßen. Und damit die Männer, die bei Einbruch der Dunkelheit die Flamme entfachten. In London tun sie das noch heute. Über ihre große Liebe zu den Lampen, ihre Ehrfurcht vor der Geschichte und den moder
Der Winternebel drängt sich in das warme Licht, als würde er ahnen, dass er nur hier seine mysteriöse Schönheit entfalten kann. Von der Themse aus zieht er entlang des Westminster-Palasts in den Hof der Westminster Abbey, in der seit Jahrhunderten Englands Monarchen gekrönt und beigesetzt werden, weiter in die Gassen der Metropole zu den Lichtinseln. Hier, nur unweit des Trubels der Machtzentrale, klettert Garry Usher eine Leiter hinauf, die an eine Straßenlaterne gelehnt ist. Während in der Ferne Big Ben schlägt, öffnet Usher das Gehäuse der Lampe und greift nach dem kleinen mechanischen Uhrwerk, das im Inneren versteckt ist. Klick, klick, klick. Zwölf Mal dreht er daran, wie an einer alten Armbanduhr. Dann ist die Gaslampe wieder aufgezogen. Die Gasse mit ihren georgianischen Häusern wird in warmes, sanftes Licht getaucht.
Usher lächelt zufrieden, während er die Glaskugel poliert. Er gehört zu einem Team von fünf Männern, die britische Medien gerne als „Laternenanzünder“bezeichnen. Romantiker nennen sie „die Hüter englischer Geschichte“. Sie selbst betrachten es als Privileg, als Ingenieure beim Energieversorger British Gas diesen Job ausüben zu dürfen. Der scheint aus der Zeit gefallen: Usher und Co. kümmern sich jeden Abend um die rund 1500 Gaslampen, die es noch immer in London gibt und die von Hand gewartet werden, ungeachtet aller Sparmaßnahmen.
Einige von ihnen glimmen seit mehr als 200 Jahren. Im Jahr 1807 gab der deutsche Erfinder Friedrich Albrecht Winzer auf der berühmten Prachtstraße Pall Mall in London eine öffentliche Demonstration. Die Menschen bestaunten stundenlang die neuen Lichtquellen, die bald die Öllampen ablösen sollten, das warme Licht, das zarte Flackern. Doch erst sechs Jahre später setzte sich die Technik durch, als die Westminster Bridge zwischen dem Themse-Südufer und Big Ben per Gaslicht illuminiert wurde. Kurz darauf ordnete König George IV. die massenweise Verbreitung an, um mehr Sicherheit in die gefährliche und dunkle Metropole zu bringen.
Welche Stadt tatsächlich als erste ihre Straßen mit dem honiggelben Licht erhellte, lässt sich nicht genau sagen. Die Londoner hören am liebsten die Version, wonach hier die Ära der gasbetriebenen Straßenbeleuchtung begann. Doch schon vor Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Technik in allen europäischen Städten durchgesetzt. Im 20. Jahrhundert fielen zahlreiche Laternen erst den Bomben der Weltkriege, später technischen Neuerungen und schlussendlich geschichtsdesinteressierten Stadträten zum Opfer. Erst in den 60er Jahren entschieden einige Verwaltungen in London, sie als Zeugnisse britischer Historie zu bewahren – und instandzuhalten.
Heute heißt der Mann, der alles reparieren kann, Garry Usher – „eine Legende“. So jedenfalls nennt ihn Iain Bell. Der 47-jährige Schotte leitet das Team und ist, wenn man so will, ein wandelndes GaslaternenLexikon. Er kennt so ziemlich alle Lampen, sie seien „wie Kinder, um die wir uns kümmern“, sagt er und streicht fast zärtlich über einen Laternenpfahl, der das Signum von König George V. trägt. „Ursprünglich hatten alle Säulen eine rostigbraune Farbe, doch weil Königin Victoria den Tod ihres geliebten deutschen Mannes Prinz Albert betrauerte, ließ sie alle Laternen schwarz anmalen – bis auf eine zur Erinnerung an ihn“, erklärt Bell. In seiner Thermo-Arbeitsjacke wirkt er kaum wie ein Romantiker, aber wie jemand, der große Ehrfurcht vor der Geschichte hat. Fast zu jeder Lampe weiß er eine Geschichte und er erzählt sie mit starkem schottischen Akzent und viel Detailtreue. Bell spricht oft in Wir-Form und meint doch irgendwie die Lampen. „Unsere größte Gefahr ist LED“, sagt er. Denn mithilfe der modernen Technologie könne man das Licht aussehen lassen wie das von Gaslampen. „Aber natürlich wird es nie dasselbe sein.“
Auch vor 200 Jahren hatten die Londoner ihre Bedenken, als die ersten Gaslaternen in die Straßen kamen. Die Angst vor Explosionen war groß und zum Teil auch berechtigt. Damals machten sich tausende Laternenanzünder bei Sonnenuntergang zum mühsamen FlammenEntfach-Rundgang auf – und bei Sonnenaufgang, um das Licht zu löschen. Erst ab 1860 nahmen ihnen mechanische Uhrwerke einen Großteil der Arbeit ab. Bei der Hälfte aller noch existierenden Gaslaternen sorgen sie bis heute dafür, dass im Winter ab etwa 16 Uhr das Licht brennt – und am Morgen wieder ausgeht. Nur alle zwei Wochen müssen die Uhrwerke aufgezogen werden. Die restlichen Lampen haben einen Zeitschalter und brauchen lediglich nach sechs Monaten neue Batterien und eine Inspektion.
Eine Ausnahme jedoch gibt es. Bell zeigt nahe des Trafalgar Square in eine Gasse, die am Themseufer endet. Hier steht die berühmte „Iron Lily“neben dem Hotel Savoy – ein Wunder der Ingenieurskunst, das rund um die Uhr leuchtet, 365 Tage im Jahr. Seit 1870 werden darin Methangase aus den Abwasserkanälen verbrannt. Damit erfüllt sie ihren vom Luxushotel geforderten Hauptzweck: Sie beseitigt die üblen Gerüche der Londoner Kanalisation. „Wenn diese Lampe ausgeht, stinkt es innerhalb von Momenten nach Scheiße“, sagt Bell. Er steckt seine Hände in die Hosentaschen und verzieht gespielt angeekelt das Gesicht.
Um die Ecke, im Covent Garden, spielen Straßenkünstler für ein paar Pfund Gitarre oder führen Handstände auf. Das Marktareal wurde erst kürzlich saniert, nun strahlen Gaslampen die aufgehübschten Fassaden an. Die meisten davon sind Nachbauten. „Der Architekt wollte unbedingt Gaslaternen, sie machen einfach ein besseres Licht“, sagt Bell. Doch meistens ist es nicht hell genug, insbesondere für Überwachungsmaßnahmen. Deshalb stehen neben den gasbetriebenen oft elektrische Lampen – ein Zugeständnis an die heutige Zeit, in der Sicherheitskameras das öffentliche Leben in ganz London aufzeichnen. „Es ist schrecklich, oder?“, sagt Bell und meint das harsche, grelle Licht der elektrischen Versionen.
Dagegen herrscht im St. James’s Park eine fast magische Atmosphäre, er ist komplett von Gaslampen illuminiert. In der Ferne leuchtet der Buckingham-Palast, wo Traditionen hochgehalten werden. „Die königliche Familie ist sehr pro Gas“, sagt Bell. Vor Staatsbesuchen werden deshalb im und um den Prachtbau alle Uhren aufgezogen und die Lampen zum Leuchten gebracht.
Alles könnte so romantisch sein. Wären da nicht die ärgsten Feinde der Gaslaternen: Lastwagen, Busse, größere Autos, die U-Bahn. „Die Lampen sind nicht für den Verkehr von heute entworfen worden“, sagt Bell, sondern für Pferde und Kutschen, die stets von den Laternen überragt wurden. Viele wurden in den vergangenen Jahrzehnten verlängert. Doch oft ist das nicht genug. Ständig stoßen Fahrzeuge beim Parken an die Pfähle, verbiegen sie oder zerstören die Lampen in Gänze. Im St. James’s Park, unweit des Buckingham-Palasts, hat sich eine Laterne unter der Wucht eines Transporters derart gekrümmt, dass sie mittlerweile auf ihren Abtransport wartet. Schon bald soll hier eine Kopie glimmen. Die 1500 Exemplare, die es in London noch gibt, stehen unter Denkmalschutz und müssen im Schadensfall ersetzt werden.
Das Licht wird trotzdem das gleiche sein, das bereits auf die Welt des Schriftstellers Charles Dickens fiel. Auf sein London, das Mitte des 19. Jahrhunderts von den Exzessen der Industrialisierung gezeichnet war, nach verbrannter Kohle stank und
Fast zu jeder Laterne weiß er eine Geschichte Eine neue Herzenslampe hat er noch nicht gefunden
wo die Arbeiter in den Fabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen schufteten. Wo sich die sozialen Gegensätze verhärteten und die viktorianische Gesellschaft nur so vor Ungerechtigkeit schrie. Wo sich einerseits ungekannter Wohlstand entwickelte und andererseits das Stadtbild von Kinderarbeit, überbevölkerten Slums und extremer Armut geprägt war. Der Schriftsteller prangerte all das an und erwähnte doch regelmäßig den Laternenanzünder in seinen Geschichten – ganz so, als ob er Licht auf die ungerechte Gesellschaft werfen könnte. Sie seien ein eigenes Volk, das „starr an alten Zeremonien und Gebräuchen festhält, die vom Vater zum Sohn weitergereicht wurden, seit die erste öffentliche Laterne im Freien entzündet wurde“, schrieb Dickens.
Der Schotte Bell kam dagegen durch Zufall zum Laternenanzünden. Bevor ihn British Gas zum Manager des Teams beförderte, war ihm wie vielen Londonern und Touristen nicht einmal bewusst, dass es noch immer Gaslaternen in der Metropole gibt. Seine Lieblingslampe? Stand über Jahrhunderte nur wenige Meter von der Westminster Abbey entfernt, in Sichtweite der Wahrzeichen der Stadt. Doch Angestellte der BBC machten sie platt, als sie Absperrgitter für Kamerateams aufstellten, um den Gedenkgottesdienst für Queen Mum zu filmen. „Sie haben sie völlig zerstört“, sagt Bell und schüttelt dabei den Kopf. Später wurde wie üblich eine Kopie aufgestellt. Aber das Gefühl sei nicht dasselbe. Und eine andere Herzenslampe hat er bislang ebenfalls noch nicht gefunden. „Man kann keinen neuen Favoriten wählen. Wenn die Lieblingslampe einmal weg ist, ist sie weg.“Seine Worte klingen herzzerreißend.