Korpulente Talente
Jetzt, gegen Ende der Fastenzeit, erkennt der übergewichtige Mensch, dass er wieder einmal zu wenig gefastet hat. Die Enttäuschung angesichts seiner Schwäche führt oft zum spontanen Verzehr der nächsten Kalorienbombe und zur Erkenntnis, dass er mit einem unlösbaren Problem konfrontiert ist. Aber während er verstärkt isst, die Waage meidet und nach einem Ausweg sucht, kann er die entscheidende Wende seines Lebens einleiten. Denn die aktuelle Neuropsychologie hat herausgefunden, dass die intensive Beschäftigung mit einem unlösbaren Problem unser Gehirn zur Entwicklung von Kreativität anregt. Der Zeitgenosse, der verschlafen auf dem Sofa sitzt und der ungenutzten Fastenzeit nachtrauert, mag zu dick sein. Aber plötzlich verfügt er nicht nur über Körperfülle, sondern auch über eine Fülle origineller Einfälle.
Jetzt verstehen wir, warum korpulente Talente wie Honoré de Balzac, Alfred Hitchcock, Orson Welles, Heinrich VIII. von England und August der Starke von Sachsen keinen Mangel an Ideen hatten. Korpulenz lässt sich nun in ganz neuem Licht beurteilen. Vielleicht dachte Shakespeare nicht nur an die Gefährlichkeit der aggressiven Dünnen, sondern auch an den Einfallsreichtum der verzagten Dicken, als er der Hauptfigur in seiner Tragödie „Julius Caesar“den Satz in den Mund legte: „Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen.“