Paul Auster: Die Brooklyn Revue (3)
Er rief bei der Fluggesellschaft an und bat darum, man möchte seine Mutter in New York in Empfang nehmen, ihr erklären, dass er in letzter Minute fortgerufen worden sei, und sie in ein Taxi nach Manhattan setzen. Er werde einen Schlüssel beim Portier deponieren, und sie solle schon in seine Wohnung gehen und dort auf ihn warten. Frau Weinberg hörte sich das alles an und stieg in ein Taxi. Der Fahrer raste los, und zehn Minuten später auf dem Weg in die Stadt verlor er die Kontrolle über den Wagen und stieß frontal mit einem anderen zusammen. Er und seine Passagierin wurden schwer verletzt.
Unterdessen war Dr. Weinberg bereits im Krankenhaus und operierte. Der Eingriff dauerte etwas über eine Stunde, und als der junge Arzt fertig war, wusch er sich die Hände, zog sich um und eilte aus dem Umkleidezimmer, um zum verspäteten Wiedersehen mit seiner Mutter nach Hause zu fahren. Als er auf den Flur trat, wurde gerade der nächste Patient in den Operationssaal geschoben.
Es war seine Mutter. Nach dem, was Jonas Weinberg mir erzählte, ist sie gestorben, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen.
Eine unerwartete Begegnung
J etzt quassele ich schon ein Dutzend Seiten, dabei hatte ich nur vor, mich den Lesern vorzustellen und die Kulissen für die Geschichte aufzubauen, die ich eigentlich erzählen möchte. Nicht ich bin die Hauptfigur dieser Erzählung. Die Ehre, als Held dieses Buches aufzutreten, gebührt meinem Neffen Tom Wood, dem einzigen Sohn meiner verstorbenen Schwester June. Little June-Bug, wie wir sie nannten, kam zur Welt, als ich drei war, und meine Eltern nahmen ihre Geburt zum Anlass, aus der engen Wohnung in Brooklyn in ein Haus in Garden City auf Long Island umzuziehen. Wir kamen immer gut miteinander aus, meine Schwester und ich, und als sie vierundzwanzig Jahre später heiratete (sechs Monate nach dem Tod unseres Vaters), führte ich sie zum Altar und gab sie ihrem Mann, Christopher Wood, der als Wirtschaftsjournalist für die New York Times arbeitete. Die beiden zeugten zwei Kinder (meinen Neffen Tom und meine Nichte Aurora), aber nach fünfzehn Jahren zerbrach die Ehe. Ein paar Jahre später heiratete June erneut, und wieder begleitete ich sie zum Altar. Ihr zweiter Mann war Philip Zorn, ein wohlhabender Börsenmakler aus New Jersey, der zwei Exfrauen und seine fast erwachsene Tochter Pamela im Gepäck hatte. Und dann, im empörend jungen Alter von neunundvierzig Jahren, erlitt June eine massive Hirnblutung, als sie eines brütend heißen Nachmittags Mitte August in ihrem Garten arbeitete, und starb noch vor Sonnenaufgang des nächsten Tages. Für ihren großen Bruder war das mit Abstand der schlimmste Schlag, den er je hat einstecken müssen, und nicht einmal, als er einige Jahre später an Krebs erkrankte und dem Tod ins Auge sah, war er auch nur annähernd so unglücklich wie damals.
Nach ihrer Beerdigung verlor ich den Kontakt zur Familie, und als ich Tom am 23. Mai 2000 zufällig in Harry Brightmans Antiquariat begegnete, hatte ich ihn seit fast sieben Jahren nicht mehr gesehen. Ihn hatte ich immer besonders gern gehabt, und schon als kleiner Knirps hatte er mich beeindruckt als jemand, der über dem Durchschnitt stand, als jemand, der dazu bestimmt war, im Leben Großes zu erreichen. Den Tag von Junes Beisetzung ausgenommen, hatte unser letztes Gespräch im Haus seiner Mutter in South Orange, New Jersey, stattgefunden. Tom hatte gerade seinen Abschluss in Cornell mit Auszeichnung gemacht und stand jetzt am Beginn eines vierjährigen Stipendiums an der University of Michigan, wo er amerikanische Literatur studieren wollte.
Alles, was ich ihm prophezeit hatte, war eingetreten, und ich erinnere mich noch gut an dieses Familienessen und die schöne Szene, als wir alle die Gläser hoben und auf Toms Erfolg anstießen. Als ich in seinem Alter war, hatte ich gehofft, einmal einen ähnlichen Weg einzuschlagen wie mein Neffe. Wie er hatte auch ich am College Englisch als Hauptfach gehabt, mit der heimlichen Absicht, danach Literatur zu studieren oder mich als Journalist zu versuchen, hatte aber für beides keinen Mut aufgebracht. Das Leben kam mir in die Quere – zwei Jahre bei der Armee, Arbeit, Ehe, Familienpflichten, die Notwendigkeit, immer mehr Geld zu verdienen, der ganze Sumpf, der uns verschlingt, wenn wir nicht den Mumm haben, unsere eigenen Belange durchzusetzen –, aber mein Interesse an Büchern hatte ich nie verloren. Lesen war meine Unterhaltung und mein Trost, mein Labsal, mein liebster Genuss: Lesen zum puren Vergnügen, wegen der wunderbaren Ruhe, die einen umgibt, wenn man die Worte eines Autors in seinem Kopf widerhallen hört. Tom hatte diese Liebe immer mit mir geteilt, und als er mit fünf oder sechs damit anfing, hatte ich es mir zum Prinzip gemacht, ihm Jahr für Jahr mehrere Bücher zu schicken – nicht nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten, sondern wann immer ich auf etwas stieß, von dem ich annahm, es könnte ihm gefallen. Als er elf war, hatte ich ihn mit Poe bekannt gemacht, und da Poe einer der Schriftsteller war, die er in seiner Magisterarbeit behandelte, war es nur natürlich, dass er mir davon erzählen wollte und nur natürlich, dass ich ihm gern zuhörte. Die Mahlzeit war inzwischen beendet, und während alle anderen schon im Garten saßen, blieben Tom und ich im Esszimmer und schenkten uns den restlichen Wein ein.
„Auf deine Gesundheit, Onkel Nat“, sagte Tom und hob sein Glas.
„Auf deine, Tom“, antwortete ich. „Und auf ,Imaginäre Paradiese: Das amerikanische Geistesleben vor dem Bürgerkrieg‘.“
„Ein prätentiöser Titel, muss ich leider sagen. Aber was Besseres ist mir nicht eingefallen.“
„Prätentiös ist gut. Da horchen die Professoren auf. Du hast eine Eins plus bekommen, richtig?“
Bescheiden wie immer machte Tom eine abwehrende Handbewegung, als wollte er die Bedeutung der Note herunterspielen. Ich fuhr fort: „Da geht’s auch um Poe, sagst du. Und worum sonst noch?“„Thoreau.“„Poe und Thoreau.“„Edgar Allan Poe und Henry David Thoreau. Ein unglücklicher Reim, findest du nicht auch? Die vielen O, die man da im Mund hat. Ich muss dabei immer an jemanden denken, der im Zustand ewiger Überraschung verharrt. Oh! Oh, Poe! Oh, Thoreau!“
„Eine unbedeutende Misslichkeit, Tom. Aber ein Bravo dem Mann, der Poe liest und Thoreau nicht vergisst. Stimmt’s?“
Tom lächelte breit und hob noch einmal sein Glas. „Auf deine Gesundheit, Onkel Nat.“
„Und auf deine, Dr. Thumb“, sagte ich. Wir tranken noch einen Schluck Bordeaux.