Erinnerungen an Helmut
Die einzige noch lebende Cousine des verstorbenen Alt-Bundeskanzlers Kohl wohnt in Kempten. Wie sie die gemeinsame Kindheit und den Selbstmord von Ehefrau Hannelore erlebt hat
Als kleiner Bub saß er stundenlang vor einem Holzbrett und hämmerte Nägel hinein. Ruhig und ausdauernd. Als Jugendlicher gab es fast keine Organisation in seinem Heimatort Ludwigshafen-Friesenheim, in der er nicht war. Als Bundeskanzler verfolgte er zielstrebig sein großes Ziel, die Einheit Europas. Den verstorbenen Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (87) kann aus seiner Verwandtschaft wohl niemand besser beschreiben als seine einzige, noch lebende Cousine, Johanna Lange in Kempten. An einprägsame Erlebnisse mit dem Politiker erinnert sich die 89-Jährige. Sie denkt zurück an einen „gutmütigen, nie herrschsüchtigen“Verwandten. Und bei Streit und Misstönen „hat der Helmut wieder Ruhe reingebracht.“Umso unverzeihlicher ist für die Cousine, was Kohls Ehefrau Hannelore ihrem Mann mit ihrem Selbstmord angetan habe.
Wenn Johanna Lange, deren Mutter die Schwester von Kohls Mutter war, an ihre Kindheit mit Helmut Kohl in Friesenheim denkt, umspielt stets ein Lächeln die wachen Augen der Seniorin. „Damals mussten wir auf den kleinen Helmut aufpassen. Weil der Vierjährige uns Ältere – darunter Kohls Bruder und Schwester – eben störte, setzten wir ihn ans Nagelbrett.“
Kohls manchmal sture Zielstrebigkeit und Konsequenz, die ihm aber auch die längste Regierungszeit eines deutschen Kanzlers (1982 bis 1998) eingebracht hat, war schon damals zu spüren. Und sein Drang zur Harmonie. Niemandem, außer ihm, erzählt Johanna Lange, sei es zum Beispiel gelungen, zwei über Jahre zerstrittene Hausbewohner wieder zu versöhnen: „Er konnte einfach nicht zuschauen, wenn etwas nicht in Ordnung war.“
Aber, wehe, etwas ging nicht nach seiner Ansage. Nie vergessen wird Johanna Lange, die mit ihrem Mann über Frankfurt und Hamburg ins Allgäu kam und hier seit 45 Jahren lebt, eine Situation auf dem Friedhof. Weil der Gärtner das Grab von Kohls Mutter nicht so gerichtet hat wie gewünscht „wurde Helmut richtig aufbrausend“. Doch das erlebte die Verwandtschaft selten.
Geprägt hat nach Ansicht der Cousine den jungen Kohl nicht nur sein Elternhaus, sondern auch sein Freundeskreis: „Der Helmut war viel im Arbeiterviertel unterwegs.“Hier war er in der Kirche aktiv, denn er stammte aus einem streng katholischen Elternhaus, erzählt Johanna Lange. Seine Mutter sei jeden Tag in die Kirche gegangen und dort habe sich die Verwandtschaft auch oft getroffen.
War der jugendliche Kohl ein richtiger Lausbub? „Er hat sicher seine Streiche gemacht,“lacht Johanna Lange. Aber vielleicht weniger als andere. Denn Helmut habe immer die Schläge für das bekommen, was andere angestellt haben. Sein strenger Vater, ein Finanzbeamter, weiß die Seniorin, habe den Buben oft geprügelt. Zu oft. „Da hat er einem schon leid getan“.
Ein wenig bedrückt wirkt Johanna Lange, wenn sie davon erzählt. Aber fast traurig wird sie, wenn sie an den Schicksalsschlag denkt, der den jungen Pfälzer so sehr geprägt hat: Der Tod seines älteren Bruders, der im Krieg aus Frankreich nicht mehr zurückkehrte. Das, ist Johanna Lange überzeugt, war der Anlass, dass aus dem deutschen Politiker Kohl ein Europäer wurde und ihm die Beziehung zu Frankreich so sehr am Herzen lag. Ein Leben lang.
Nie wird die gebürtige Friesenheimerin, die das „Glück hatte, immer Hausfrau und Mutter für ihre drei Kinder zu sein“, vergessen, wie sich der 14-Jährige von seinem Bruder am Zug verabschiedet hat. „Sorge für die Mutter“habe dieser ihm aufgetragen – und Helmut Kohl hat das ein Leben lang getan.
Zu allen Geburtstagen und Verwandtentreffen ist er gekommen – egal, ob als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, als CDU-Vorsitzender, Bundeskanzler oder AltBundeskanzler. „Die Familie war ihm wichtig“, sagt Johanna Lange. Auch wenn man sich später oft nur bei Beerdigungen getroffen hat.
Aus den Augen verloren habe man sich dann etwas in den letzten Jahren nach der Heirat mit der zweiten Frau Maike. Auch mit den Kohl-Söhnen gebe es keinen Kontakt. „Doch hätte ich ein Problem gehabt, Helmut hätte immer geholfen,“sagt Lange.
Besucht in Kempten jedoch hat der viel beschäftigte Cousin seine Cousine früher schon. Als er 1979 zum Beispiel im Kornhaus sprach. „Und immer hat er uns ausgefragt über die bayerische Politik, gezielt über seinen Rivalen Franz-Josef Strauß,“lacht Johanna Lange, die gute Kontakte zu Cilly Kiechle, der Witwe des früheren Bundeslandwirtschaftsministers Ignaz Kiechle pflegt. Politik war immer ein Thema im Verwandtenkreis: „Ja, da hat man dem Helmut schon gesagt, was er falsch macht.“Doch arrogant sei der Kanzler nie aufgetreten.
Da hatte die Verwandtschaft schon eher ein Problem mit seiner Ehefrau Hannelore. Sie habe ihren Mann von den Verwandten abgeschirmt, oft von „deiner Sippschaft“gesprochen. Viele hätten sie für eine Frau gehalten, „die nur sich gekannt hat.“Kohl habe immer bei ihr sein sollen, gleichzeitig aber auch auf der politischen Bühne spielen sollen.
Doch was Hannelore Kohl ihrem Ehemann mit ihrem Selbstmord angetan habe – darüber kommt die Cousine von Helmut Kohl nicht weg. Denn so groß und kräftig ihr Cousin auch körperlich gewesen war, so gebrochen sei er nach diesem Tod gewesen.