Der Abschied eines großen Mittelläufers
In der weltweiten Trauer um den Einheitskanzler und Staatsmann Helmut Kohl wäre fast in Vergessenheit geraten, dass auch der Fußball einen der Seinen verliert. Nicht irgendeinen, sondern einen der Letzten, die noch das alte Kunstwerk des Mittelläufers erlernt haben. Der Mittelläufer war eine Art Innenverteidiger der Dreierkette. Sein Arbeitsfeld war die vertikale „schottische Furche“, die er defensiv als Abräumer, offensiv als Gestalter beackerte. Schon damit wird klar: Er war Befehlsgeber und Strippenzieher. Kreuze keiner seine Furchen!
Große deutsche Vertreter waren der 54er-Held Werner Liebrich, der Vizeweltmeister von 1966, Willi Schulz, und – Helmut Kohl, ausgebildet bei Phönix Ludwigshafen. Kaum einer hat für das Leben so viel aus der Mittelläufer-Lehre gelernt wie er. Dass die Gattung damals am Aussterben war, konnten weder der Kanzler selbst noch die Bundeswehr oder ein Artenschutzprogramm verhindern. Auf den Mittelläufer folgten Franz Beckenbauer und der Libero. Eine schöne, kurze Zeit, der das Effizienzdenken den Garaus machte. Raus mit den freigeistigen Flaneuren. Es begann die Zeit der Viererketten, die Pirouettendreher in Eisen legten.
Helmut Kohl ist trotzdem beim Fußball geblieben. Anders als andere musste er sich nicht anwanzen. Schließlich war er ja von Beginn an dabei, klatschte bei Länderspielen an den richtigen Stellen und erkannte Olaf Thon auch ohne einflüsternden Referenten.
Der Fußball war ihm eine Leidenschaft. 1996 hat er Deutschland zum EM-Titel geführt – aus dem Hintergrund und der Tiefe des abhörsicheren Raumes. Berti Vogts wollte nach der verkorksten WM 1994 in den USA aufhören. Kohl bebabbelte ihn so lange, bis er am Ball blieb. Natürlich war der Kanzler beim EM-Triumph in England im Stadion. Er war auch als Glücksbringer ein Riese.
Bis 1998. WM in Frankreich. Achtelfinale. Kohl auf der Tribüne – und Deutschland verlor. Wer ein Gespür für Zusammenhänge hatte, ahnte, dass Helmut Kohls politisches Ende bevorstand. Nun ist er gestorben – einer der letzten großen Mittelläufer.