Das Misstrauen läuft mit
Es ist schwer, sich der Suggestivkraft von Bildern zu entziehen. Jenem beispielsweise, das Justin Gatlin auf der Laufbahn des Londoner Olympiastadions entworfen hat. Der US-Amerikaner hatte gerade Usain Bolt in dessen letztem Einzelrennen besiegt, als er vor Bolt auf die Knie sank, sich klein machte, damit alle Ehre dem Jamaikaner zuteilwerde. Eine beeindruckende Geste, die von einigen Tatsachen allerdings brutal entzaubert wird.
Gatlin wäre bei konsequenter Auslegung der Dopingregeln kein Kandidat mehr für das 100-m-Finale gewesen. Er ist 2001 mit Amphetaminen, 2006 mit Testosteron erwischt worden. Wie jeder aufrechte Dopingsünder war auch er nach eigenem Urteil unschuldig. Ein Schiedsgericht halbierte seine achtjährige Sperre, weil er als Kronzeuge gegen seinen Trainer aussagte.
Gatlin ist 35. Von den zehn schnellsten 100-m-Sprintern der Welt hat sich keiner mehr jenseits der 25 Jahre verbessert. Der Amerikaner aber ist als 33-Jähriger noch Bestzeiten über 100 m (9,74 Sek.) und 200 m (19,57 Sekunden) gelaufen. Jetzt ist er Weltmeister. Bolt hat ihn im Ziel umarmt. Auch eine große, wenngleich absurde Geste – frei nach dem Motto: Jeder hat eine dritte, vierte oder fünfte Chance verdient. Oder war es einfach nur so, dass sich zwei in den Armen lagen, die beide wissen, dass der Mensch ohne chemische Beschleuniger hundert Meter nicht unter zehn Sekunden laufen kann? Ein Gedanke, den der Leichtathletik-Fan am Ende von Usain Bolts beeindruckender Karriere nicht denken mag, dem er sich aber angesichts dessen atemberaubender Weltrekorde kaum entziehen kann. So gesehen sind die vergleichsweise bescheidenen Zeiten aus dem Londoner Finale erfreulich. Keiner ist unter 9,90 Sekunden geblieben. Der Dramatik hat das nicht geschadet.
Ob das Ergebnis mit Gatlin als Weltmeister Bestand hat, wird sich in einigen Jahren zeigen, wenn die aktuellen Doping-Proben verfeinerten Analysen unterzogen werden. Nicht auszuschließen, dass Bolt dann noch Gold gewinnt – oder Bronze verliert.