Das neue Lesefieber
In seinem Gedicht „Herbsttag“vertrat Rilke die Überzeugung, der Mensch werde in der dunkleren Jahreszeit auch künftig „wachen, lesen, lange Briefe schreiben“. Hier irrt der Dichter. Und damit stellt er die überzeitliche Gültigkeit großer Literatur in Frage. Denn das Schreiben langer Briefe ist längst aus der Mode gekommen.
Selbst US-Präsident Donald Trump kann seine weltpolitischen Entscheidungen im Kurznachrichtendienst Twitter auf 140 Zeichen zusammenfassen. Da wäre es lächerlich, beispielsweise privaten Liebeskummer in epischer Breite darzustellen und als Maxibrief zu verschicken. Laut Statistik lehnen es auch immer mehr Mitmenschen ab, sich bei Herbstnebel und Winterkälte hinter einem Buch zu verschanzen.
Zu überlegen ist allerdings, ob der kluge Rilke vielleicht schon die ganz neue Form des Lesens vorausgesehen hat. Der Mensch von heute gerät ja durchaus noch in Lesefieber – vor allem wenn er die manchmal schwer verständlichen Nachrichten auf Facebook, WhatsApp und Instagram enträtselt. Dann schreibt er zwar keinen Brief, aber er postet, damit irgendetwas gepostet ist.
Vermutlich hat sich die Welt doch nicht grundlegend geändert. Schon vor 2000 Jahren richtete Kaiser Tiberius ein twitterartiges Schreiben folgenden Inhalts an den römischen Rat: „Was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll; alle Teufel mögen mich holen, wenn ich das weiß.“