Zerstört war ihm die Stadt am liebsten
Mit Schriftsteller Heinrich Böll durch Köln
Wenn ausländische Freunde Heinrich Böll in den 1970erJahren in seiner Heimatstadt Köln besuchten, dann erwartete sie ein straffes Besichtigungsprogramm. Man kann es als Köln-Tourist bis heute wiederholen – allerdings braucht man dafür Durchhaltevermögen. Der Schriftsteller führte seine Gäste zunächst in die romanischen Kirchen. Er zeigte ihnen St. Maria im Kapitol, St. Georg, St. Severin, St. Gereon und St. Ursula. Schweren Herzens verzichtete er auf die restlichen sieben, vorerst jedenfalls. Der heutige Besucher sollte auf keinen Fall St. Gereon auslassen: Diese Basilika war im Mittelalter der größte Kuppelbau nördlich der Alpen. Eine Insel der Stille ist St. Maria im Kapitol, eine der ältesten Kirchen Deutschlands – sie mochte Böll besonders. Anschließend ging es zum ausgegrabenen römischen Statthalterpalast, und dann erst war der Dom dran, denn den mochte Böll nicht besonders. Ihn störten die Türme. Es folgten zwei Museen: Römisch-Germanisches und Wallraf-Richartz. Kurze Erholung gefällig? Dann bitte zum Rhein. Während des Spaziergangs am Fluss referierte Böll in seiner tiefen Kettenraucher-Stimme über Köln als Brückenstadt. In Anbetracht der Restaurants hielt er es nun vielleicht für angebracht, einen Imbiss einzunehmen. Aber nur vielleicht – denn eigentlich wäre es doch viel lohnenswerter, noch weitere romanische Kirchen zu sehen.
Auf Krücken durch die Stadt
Der russische Dissident Lew Kopelew hat einmal beschrieben, wie er und seine Frau im November 1980 schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft in Köln von Böll auf die obligatorische Kirchentour mitgenommen wurden. Der Literaturnobelpreisträger ging damals nach einer Operation an Krücken, aber das hielt ihn nicht davon ab, zu den ersten Christengräbern in die Krypta von St. Severin hinunterzusteigen. Heinrich Böll hat fast sein ganzes Leben in Köln verbracht. Und doch war es so, als hätte er in drei verschiedenen Städten gelebt: im Vorkriegs-Köln, im zerstörten Köln und im Nachkriegs-Köln. Das Haus in der Südstadt, in dem er vor 100 Jahren am 21. Dezember 1917 geboren wurde, steht noch (Ecke Teutoburger/Alteburger Straße), gekennzeichnet durch eine Inschrift in der gläsernen Eingangstür. Die umliegenden Straßen laden ein zum Flanieren. Bis heute kann man hier dem Köln des Kaiserreichs nachspüren.
Das zweite Köln erlebte Böll, als er im September 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Die Stadt war stärker bombardiert als Dresden. Glücklicherweise ist Köln noch immer keine Stadt, die von Hochhäusern dominiert wird – die berühmte Silhouette steht unter Schutz. Deshalb bilden der Dom und die weit darunter liegenden Türme der romanischen Kirchen und des Rathauses noch immer ein mittelalterliches Panorama, auch wenn fast alles andere im Bombenhagel unterging.
Böll war übrigens nicht damit einverstanden, dass der Dom stehen geblieben war: „Ich sehe darin eine besondere Variante der Barbarei, dass man es sich nicht leisten kann, den Kölner Dom kaputtzuschmeißen“, meinte er sarkastisch. Davon abgesehen empfand er: „Das zerstörte Köln hatte, was das unzerstörte nie gehabt hatte: Größe und Ernst.“Die Ruinenstadt war für ihn auch ein Ort der Hoffnung. Vergangen war schließlich die Stadt unter dem Hakenkreuz. Stattdessen entstand in seinen Augen nun so etwas wie die klassenlose Gesellschaft. Es ging für jeden nur noch um die elementaren Dinge des Lebens: etwas zu essen, im Winter zu heizen und ein Dach über dem Kopf. In der Trümmerwüste erlebte der junge Schriftsteller glückliche Stunden. Er saß in seiner Mansarde, trank Tee, rauchte und tippte auf der alten Schreibmaschine seines Vaters. Als die Trümmer schließlich weggeräumt wurden, war er gar nicht begeistert: „Ich habe keine Schippe angefasst.“
Zehn Jahre später, als in Köln schon Tankstellen und Autopavillons leuchteten, versuchte er, die Trümmeratmosphäre künstlich wiederherzustellen. Jeden Tag schickte er einen seiner Söhne in den Keller, um Trümmerbrocken gegen die Wand zu schlagen, „woraufhin dem Beutel ein feiner, köstlich nihilistischer Staub entsteigt: jenes Stimulans, ohne das ich einfach nicht arbeiten kann; ich atme dieses Puder der Vernichtung wie andere Opium.“
Fehlende Kargheit
Das moderne Köln interessierte Böll nicht mehr. Er nannte es das „Auto-Köln“. „Köln ist für mich eine verschwundene, versunkene Stadt, in der ich einige Punkte noch erkenne, und das sind eben hauptsächlich die Kirchen, die romanischen Kirchen“, sagte er ein Jahr vor seinem Tod. In gewisser Weise sehnte er sich nach der Kargheit der Trümmer zurück. Einen Eindruck davon gibt sein Arbeitszimmer, das in der Kölner Stadtbibliothek kostenlos besichtigt werden kann. Der abgewetzte Schreibtisch, das Bambusbett – niemand würde auf die Idee kommen, dies wäre die Wirkungsstätte eines bedeutenden Autors.
Böll stand als Person und Schriftsteller in Opposition zu vielem, was die junge Bundesrepublik ausmachte. Am Ende seines Lebens fühlte er sich in seiner Heimatstadt so fremd, dass er sie verließ. Er wohnte danach in Bornheim-Merten und in Langenbroich in der Eifel. Dort ist er im Juli 1985 gestorben, in Merten liegt er begraben. Nach Köln zurück wollte er nicht.