Die Welten der Gabriele Münter
Auch Gemälde, die noch nie öffentlich zu sehen waren, präsentiert das Münchner Lenbachhaus im Kunstbau. Darunter sind oberbayerische Ansichten vom Bau der Olympiastraße 1936
München Gabriele Münter und ihrer großzügigen Schenkung hat das Lenbachhaus München seinen internationalen Ruhm in Sachen Blauer Reiter und Klassischer Moderne zu verdanken. Im Gegenzug richtet(e) das Museum immer wieder Ausstellungen und kleinere Schauen zu Teilaspekten des Münter’schen Werks aus – allem voran die große Wander-Retrospektive von 1992. Gleichzeitig gilt weiter: Das OEuvre der Postimpressionistin, Expressionistin, sachlichen und abstrakten Malerin ist bis heute nicht in seinem kompletten Umfang bekannt beziehungsweise wissenschaftlich erschlossen.
Wenn das Lenbachhaus München nun anlässlich des 140. Geburtstages der Künstlerin eine Überblicksschau mit Fotos, Zeichnungen und 130 Gemälden – geliehen u.a. aus den USA, Frankreich und Israel – zusammengetragen hat, dann hängen – neben qualitativ schwächeren Bildern – auch Arbeiten, die noch nicht in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gefunden haben, ja noch nie öffentlich zu sehen waren. Obwohl sie es verdient gehabt hätten.
Dies ist für süddeutsche Breitengrade umso erstaunlicher, als ein Teil davon oberbayerische Motive von speziellem historischen Interesse zeigt: die Bautätigkeit an der zweigleisigen Bahnstrecke Murnau– Garmisch sowie an der Olympiastraße nach Garmisch Mitte der 30er Jahre. Münter greift da erneut das Sujet Technologie auf – eines der zehn thematischen Kapitel der soeben gestarteten Lenbachhaus-Ausstellung –, das sie seit ihrer frühen, zweijährigen US-Reise (1898–1900) schon als Fotomotiv fasziniert hatte. Gleichzeitig allerdings nimmt sie damit billigend in Kauf, dass sie sich einem Sujet hingibt, das zu NS-Zeiten als klar systemkonform zu betrachten war – wie natürlich auch im lehrreichen Ausstellungskatalog der Kunsthistorikerin Isabelle Jansen dargelegt wird: der deutschen Verkehrswegeentwicklung. Zwei Münter-Gemälde mit blauen Baggern waren laut Jansen, die derzeit auch das Werkverzeichnis der Künstlerin erstellt, in die ideologische Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“(Berlin/München 1936) integriert.
Aber Gabriele Münter hatte ja bis ins höhere Alter einiges ausprobiert: Vor ihren berühmten expressionistischen Landschaftsdarstellungen, die mit blockhaft abgesetzten Farbflächen rund die Hälfte ihres Werks ausmachen, studierte sie – eben auf der erwähnten US-Reise – den wirkungsvollen Bildaufbau im Foto; später wendet sie sich parallel zur Plein-Air-Malerei auch Abstrahierungen im Sinne von Marc und Kandinsky zu (und in den 50er Jahren der Farb- und Form-Abstraktion), dann auch der Sachlichkeit der 20er Jahre. Dazu zählt neben den rätselhaften „Zuhörerinnen“auch die unten abgebildete schreibende Dame im Sessel (1929), eine großartig fokussierte Darstellung von Versenkung, die gleichzeitig den Titel der Münchner Schau unterfüttert: „Malen ohne Umschweife“.
Als Königsdisziplin der Kunst an der Staffelei betrachtete die fünf Sprachen sprechende Münter das Porträt – wobei sie sich mit deutlichem Schwerpunkt den Mädchen und Frauen widmete. Dass das Plakat zur Schau kein Selbstbildnis ist, sondern Marianne von Werefkin zeigt, weiß der Kenner. Dass Kandinsky im Bild unerwartet breit vertreten ist, wird den Publikumszuspruch alles andere als mindern: Er ist zum Beispiel am Teetisch zu sehen (ein Geschenk Billy Wilders ans Israel Museum, Jerusalem) sowie mit Münter und Kindern bei einer Bootsfahrt (Milwaukee Art Museum). Erstmals hängen auch zwei der vier Versionen von „Kandinsky und Erma Bossi“beieinander.
Mit dieser horizonterweiternden Ausstellung, die nach Humlebaek (Dänemark) und Köln reisen wird, rundet sich das Bild vom Werk Gabriele Münters weiter. Vollständig ausgeschöpft ist ihr Kreis aber weiterhin noch nicht.