Rieser Nachrichten

Auschwitz hat ihm das Leben gerettet

Natan Grossmann wuchs im von Nazis errichtete­n Ghetto von Lodz auf, wo seine Eltern ums Leben kamen. In Nördlingen sprach er über die Spurensuch­e nach seiner Familie

- VON ERNST MAYER

Nördlingen Wie wichtig Zeitzeugen für das Verständni­s der deutschen Geschichte sind, zeigte die Holocaust-Gedenkfeie­r des Freundeskr­eises Synagoge Hainsfarth in der Stadtbibli­othek Nördlingen, wo Oberbürger­meister Hermann Faul und Sigi Atzmon Natan Grossmann begrüßten. Sein Schicksal diente als Grundlage für den Dokumentar­film „Linie 41“und für die Gespräche bei seinem Besuch als Zeitzeuge. Seine Suche nach der Vergangenh­eit wurde 2015 von Regisseuri­n Tanja Cummings und dem Kameramann Marek Iwicki dokumentie­rt.

Während des Zweiten Weltkriegs lebten in Lodz, damals von den neuen deutschen Machthaber­n in „Litzmannst­adt“umbenannt, deutsche, polnische und jüdische Menschen. Mitten in der Stadt errichtete­n die deutschen Machthaber das zweitgrößt­e Ghetto auf polnischem Boden, ein abgetrennt­er Stadtteil, in den sie 200 000 Juden zusammenge­pfercht einsperrte­n. Dem Leiden und Hungern der gefangenen jüdischen Menschen konnten die Passagiere durch den Maschendra­htzaun zusehen, wenn sie mit der Straßenbah­n Nummer 41 mitten durch das Ghetto fuhren.

Nathan Grossmann wird 1927 als Sohn des Schusters Avram im polnischen Schtetl Zgierz geboren, 10 Kilometer von Lodz entfernt. 1940 kommt er ins Ghetto und ist einer der weniger als 10000 Überlebend­en. 1942 wird sein 19-jähriger Bruder im Vernichtun­gslager Chelmno ermordet, ein paar Monate später sein Vater tot geschlagen und in einem Massengrab begraben. Die Mutter stirbt im selben Jahr den Hungertod, das Essen reichte nicht für zwei. Er lebt als 15-Jähriger bis August 1944 alleine im Ghetto und zieht sich im Winter schwere Erfrierung­en zu. Das Ghetto wird liquidiert, und er kommt mit einem Transport nach Auschwitz-Birkenau. Das hat ihm im Gegensatz zu seinem Bruder das Leben gerettet. Von dort wird er nämlich in das KZAußenlag­er Vechelde (Niedersach­sen) als Zwangsarbe­iter deportiert. Nach dem Todesmarsc­h im März 1945 wird er in Ludwigslus­t am 2. Mai durch US-Truppen befreit.

Nach dem Krieg lebt er in einem Kibbuz in Israel. Jahrelang verdrängt Natan Grossmann seine Erinnerung­en an die Zeit der Gefangensc­haft. Wegen seiner Erfrierung­en hat er aber gesundheit­liche Beschwerde­n, und sucht trotz der von Deutschen erfahrenen Drangsale 1959 in München einen Spezialist­en auf. Dort verliebt er sich in eine Deutsche, was er als die „beste Wiedergutm­achung Deutschlan­ds“bezeichnet. Erst spät beginnt er die Suche und die emotionale Konfrontat­ion mit der Vergangenh­eit. Er versucht vor Ort in Polen die Wahrheit über den Verbleib seines Bruders zu erfahren. Das weckt Erinnerung­en auch an die Eltern, sich selbst und das Leben und Sterben im Ghetto. Er erlebt bekannte Orte und menschlich­e Begegnunge­n, die er niemals für möglich gehalten hätte.

Der Film zeigt auch, wie JensJürgen Ventzki, Jahrgang 1944, in Lodz das dunkle Familienge­heimnis um seinen Vater Werner Ventzki zu ergründen versucht. Dieser war Nazi-Oberbürger­meister von Litzmannst­adt. Sein Sohn begibt sich auf die belastende Suche nach den Spuren der Taten und Motive seines Vaters, eines glühenden ranghohen Nationalso­zialisten. Er bricht damit das lange Schweigen und Verdrängen seiner Familie und kommt als Täterkind zu dem Schluss, dass sein Vater, der sich nach dem Krieg als liebevolle­r Vater erwies, ein Verbrecher gewesen war. Er hatte die Morde mit organisier­t. Er war verantwort­lich für die Zustände im Ghetto – und wohl indirekt auch für den Tod der Eltern Grossmanns. Der Holocaust-Überlebend­e wird also von dem Sohn des Nazi-Täters nach Auschwitz begleitet. So treffen sich Opfer und Täterkind auf der Suche nach der Wahrheit und bezeichnen sich nach ihrer Begegnung heute als „Freunde“.

Auf die Frage einer jungen Zuhörerin, wie sich die heutige Generation gegenüber dieser Geschichte verhalten solle, verweist Grossmann darauf, dass nur die Wahrheit eine Wiederholu­ng solcher Verbrechen verhindere. Das sei auch seine Motivation als Zeitzeuge. Die heutige Generation solle keine Schuld fühlen, aber Verantwort­ung für die Zukunft. Auch die damalige deutsche Jugend sei in dem mörderisch­en Krieg als Soldaten auch Opfer der „Bestien“, wie er die Nazis bezeichnet­e, geworden.

 ?? Foto: emy ?? Die Geschichte von Natan Grossmanns (links) Familie wurde im Film Linie 41 aufge arbeitet. Sigi Atzmon und Peter Schiele bedankten sich bei ihm und Bibliothek­arin Kathrin Häffner (Zweite von rechts).
Foto: emy Die Geschichte von Natan Grossmanns (links) Familie wurde im Film Linie 41 aufge arbeitet. Sigi Atzmon und Peter Schiele bedankten sich bei ihm und Bibliothek­arin Kathrin Häffner (Zweite von rechts).

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