Papa ist im Krieg geblieben
Zweiter Weltkrieg Noch immer fehlt von mehr als 1,3 Millionen deutschen Opfern jede Spur. Viele Angehörige leiden unter der Ungewissheit und geben die Suche nach den verschollenen Verwandten nicht auf. Zu Recht, wie der Fall von Paul Miehling zeigt
Meitingen/München „Mach’ dir keine Sorgen, ich komm’ bald wieder!“Man kann sich gut vorstellen, wie Paul Miehling seiner Frau in die Augen sieht, als er die Worte zu ihr sagt. Wie er sie in den Arm nimmt, sie küsst, der gerade einmal acht Monate alten Tochter Gisela über den Kopf streichelt. Wie er durch die Haustüre hinaus auf die Straße tritt, ein paar Schritte geht und sich noch ein letztes Mal umdreht. Er winkt – und verschwindet.
Für immer.
Es ist ein Tag im Frühling 1945. Paul Miehling ist 31 Jahre alt und Soldat. Oberfeldwebel, um genau zu sein. Einige Jahre zuvor, noch während seiner Ausbildung zum Mechaniker in Donauwörth, seinem Geburtsort, hat der blonde, drahtige junge Mann beschlossen, sich der Wehrmacht anzuschließen. 1933 kam er nach Landsberg, wurde zum Funker und Fahrer ausgebildet. Kurze Zeit später meldete er sich freiwillig bei der Luftwaffe. Er wurde Flugzeug-Mechaniker, 1938 ließ er sich auf eigenen Wunsch nach Gablingen im Landkreis Augsburg versetzen. Ein Jahr später heiratete er seine Frau Cäcilie aus dem nahe gelegenen Biberbach. Kurz danach begann der Zweite Weltkrieg.
An der Front kämpfte Miehling für das Deutsche Reich gegen Frankreich und Russland. In der Heimat bangte die Ehefrau um sein Leben. Im Juli 1944 kam die gemeinsame Tochter zur Welt.
In jenem Frühling im Jahr 1945 ist der mit dem „Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse mit Schwertern“ausgezeichnete Soldat auf Heimaturlaub. Die junge Familie genießt ihr Glück. Bis zu jenem Tag, an dem Paul Miehling zurück in den Krieg muss und er seiner Frau verspricht, bald wiederzukommen. Wenige Wochen später ist der Krieg vorbei. Doch sein Versprechen wird der junge Familienvater nicht halten. „Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört“, wird seine Tochter Gisela Riediger, geborene Miehling, mehr als 70 Jahre später erzählen. Kein Brief, keine Nachricht, kein Lebenszeichen. An den Tod ihres Vaters wollen sie und ihre Mutter lange nicht glauben. „Er war bei uns immer ein Thema. Meine Mutter war sich sicher, dass er wieder zurückkommt. Er hatte es ja versprochen.“
Cäcilie Miehling schreibt unzählige Briefe an unzählige Adressen. Fragt, wo ihr Mann ist, ob ihn jemand gesehen hat, ob er lebt, ob irgendjemand irgendetwas weiß. Im Laufe der Jahre stapeln sich die Briefe im Haus ihres Vaters, einem Kaminkehrermeister aus Biberbach, der ihr und Tochter Gisela ein Obdach gibt. Auf erlösende Antworten wartet sie jedoch vergeblich. Jahrelang. Schweren Herzens lässt sie ihren Ehemann im Jahr 1959 offiziell für tot erklären. Einen neuen Mann lässt sie nicht mehr in ihr Leben – immer in der Hoffnung, dass „ihr“Paul doch noch eines Tages zurückkommt. Sie selbst stirbt 1988.
Wie Cäcilie Miehling erging es vielen Menschen. Rund 14 Millionen von ihnen wandten sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs an den Suchdienst des Deutschen Kreuzes, der sich das Aufspüren von vermissten, verschleppten, vertriebenen und getöteten Menschen zur Aufgabe gemacht hat. 1959 waren es noch 2,5 Millionen offene Suchanfragen. Nun lagern immer noch mehr als 1,3 Millionen ungeklärte Fälle von seit dem Krieg vermissten Personen beim deutschen Suchdienst in München. „Die allermeisten dieser Schicksale werden wir nicht mehr klären können“, prophezeit Standortleiter Thomas Huber. In den vergangenen Jahrzehnten seien Millionen von Akten gesucht, gesammelt, archiviert und digitalisiert worden. Von Dokumenten aus privatem Besitz bis hin zu Listen mit Insassen russischer Gefangenenlager. Allein die „Zentrale Namenskartei“, in der sowohl die gesuchten als auch die suchenden Personen vermerkt sind, umfasst laut Huber rund 50 Millionen – mittlerweile digitale – Karteikarten. Die bis dato letzten Akten, mit denen die Schicksale von deutschen Soldaten nachvollzogen werden können, kamen vor rund zehn Jahren aus Russland nach München.
„Es gibt bald keine Stellen mehr, an denen wir noch nach Vermissten suchen können. Unsere Quellen sind erschöpft“, erklärt Huber. Aus diesem Grund und weil die Verantwortlichen mehr als 70 Jahre nach dem Krieg ohnehin mit einem Rückgang der Nachfragen rechnen, stellt der vom Bund beauftragte und geförderte Suchdienst des Roten Kreuzes voraussichtlich im Jahr 2023 seine Arbeit ein. Bislang sei von einem Rückgang allerdings nicht viel zu spüren, sagt Huber. Noch immer erreichen den Suchdienst jährlich rund 9000 Anfragen von Geschwistern, Kindern, Enkeln oder anderweitig Verwandten, die gerne wüssten, was mit ihren Vätern, Onkeln oder Großvätern im Zweiten Weltkrieg passiert ist.
Gerade in diesen Tagen, in denen sich das Ende der Schlacht von Stalingrad – die als Wendepunkt des Krieges gilt und bei der zehntausende deutsche Soldaten zu russischen Gefangenen wurden – zum 75. Mal jährte, rechnen Huber und seine Kollegen verstärkt mit neuen Anfragen. „Für viele Angehörige ist das immer noch ein weißer Fleck auf der Familienlandkarte“, erzählt Thomas Huber.
So wie für Jörg Riediger. Der Versicherungskaufmann aus Meitingen (Landkreis Augsburg) wollte sich nicht damit abfinden, dass es vom Verbleib seines Großvaters, Paul Miehling, keine Spuren geben soll. „Er war die große Liebe meiner Oma, eine der tollsten Frauen überRoten haupt“, sagt der 40-Jährige, der sich deswegen vor wenigen Jahren erneut auf die Suche machte. Mit den wenigen Dingen, die er über seinen Großvater wusste, füllte er im Internet das Formular des Suchdienstes aus – und war mehr als überrascht, als Monate später plötzlich Post aus München in seinem Briefkasten lag. Die Such-Experten des Roten Kreuzes waren tatsächlich erfolgreich: In „neuen“Unterlagen aus den Archivbeständen der Russischen Föderation spürten sie Aufzeichnungen zu Paul Miehling auf.
Ein mehrgeschossiges Bürogebäude in München-Giesing. Im Erdgeschoss sitzt das Staatliche Schulamt und im ersten Stock Annika Estner. Gemeinsam mit Christoph Raneberg schaut sie auf die zwei Bildschirme ihres Arbeitsplatzes. An der Wand hängt eine Weltkarte, auf der mit einer Vielzahl unterschiedlich farbiger Pfeile verzeichnet ist, wie sich wann und wo welche Armee im Zweiten Weltkrieg bewegt hat. Das sind entscheidende Informationen für Estner und Raneberg, zwei der insgesamt 50 Mitarbeiter des Deutschen Suchdienstes.
Auf einem der Bildschirme vor ihnen flackert ein Foto von Oberfeldwebel Paul Miehling. Auf dem anderen eine dem Alphabet nach sortierte Namensliste. Miehling, Mieling, Mielik, Millik, Milling – dutzende ähnlich klingende Namen sind aufgelistet. „Das ist eines der Probleme, die sich uns täglich stellen“, erklärt Estner. Denn oft hat der wahre Name eines Vermissten nur entfernt etwas mit dem zu tun, was ein russischer Offizier im Krieg vor 75 Jahren bei der Vorstellung eines neuen deutschen Kriegsgefangenen verstanden und notiert hat. „Da werden Buchstaben weggelassen, aus einem H wird ein K oder etwas ganz anderes“, erklärt Raneberg. So kann die Suche nach „Paul Miehling“plötzlich Stunden, ja Tage oder Wochen dauern. Ganz zu schweigen von den Fällen, bei denen es um deutlich gebräuchlichere Namen geht. So finden sich in der „Zentralen Namenskartei“mehr als 300000 Personen namens Müller, ein paar tausend weniger Schmidts und knapp 200000 Meiers.
„Die Kollegen brauchen oft eine gehörige Portion detektivischen Spürsinns, um einen gesuchten Menschen in den Akten zu finden“, erklärt Suchdienst-Chef Thomas Huber. Wenn ihnen das gelingt – 2016 geschah das immerhin bei rund 40 Prozent der Anfragen – ist das meist mit einem gewissen Glücksgefühl verbunden. Bei den Mitarbeitern des Suchdienstes, vor allem aber bei den suchenden Angehörigen. „Es ist wie ein Puzzlestück, das man lange gesucht hat und endlich findet“, berichten Jörg Riediger und seine Mutter Gisela von dem Moment, als sie im Sommer des vergangenen Jahres den Briefumschlag des Roten Kreuzes öffneten. Denn was sie darin fanden, waren die Spuren, nach denen sie so lange verzweifelt gesucht hatten.
So listeten die Mitarbeiter des Suchdienstes in mühevoller Kleinarbeit und unterlegt mit den Kopien der entsprechenden Akten auf, was sie über den Biberbacher Paul Miehling herausgefunden haben. Aus dem Russischen übersetzten sie für die Riedigers, dass ihr Vorfahre am 30. April, also nur wenige Wochen nach seinem Heimaturlaub und kurz vor dem Ende des Krieges, im tschechischen Ostrava in sowjetische Gefangenschaft geraten war. Er wurde ins Straflager „99“nach Kasachstan gebracht, wo er widrigsten Bedingungen ausgesetzt war. Wie Überlebende berichteten, waren die Gefangenen zum Teil in mit Lehm verkleideten Baracken oder in Erdbunkern untergebracht. Sie mussten in Bergwerken, in der Landwirtschaft oder beim Kanalbau arbeiten. Im Winter war es eisig kalt, im Sommer unerträglich heiß. Typhus, Malaria, Erfrierungen, Arbeitsunfälle – viele der Insassen wurden krank, bis zu 70 Prozent überlebten den Aufenthalt im Lager „99“nicht. Paul Miehling offenbar schon.
Am 30. September 1945 sollte er mit einem Zug zur Entlassung in die Heimat nach Frankfurt/Oder geschickt werden. So steht es in den russischen Akten. Doch in Frankfurt kam er nie an. „Unseren Erkenntnissen nach sind viele Gefangene bei diesen Transporten oder kurz danach gestorben und nie registriert worden“, erklärt Suchdienst-Mitarbeiterin Annika Estner. Zudem seien in jener Zeit vor allem kranke und arbeitsunfähige Gefangene entlassen worden. Die Wahrscheinlichkeit sei also hoch, dass auch Paul Miehling schwer krank war und die Heimreise zu seiner Familie nicht überlebt hat.
Eine Nachricht, die einen Angehörigen auch 73 Jahre später nicht glücklich machen kann. Und doch ist es ein Gefühl der Zufriedenheit und Dankbarkeit, das der Brief des Roten Kreuzes bei Jörg Riediger und seiner Mutter auslöste. „Auch wenn man sich schon fast sicher sein konnte, dass er heute wohl nicht mehr lebt, waren immer noch Fragen offen. Hat er vielleicht doch überlebt? Wollte er nicht zu uns zurück? Hat er irgendwo eine neue Familie gegründet?“, sagt Gisela Riediger. Dank des Suchdienstes seien diese Fragen für sie nun beantwortet. „Für uns ist die Suche abgeschlossen“, sagt Jörg Riediger.
In München schließen Annika Estner und Christoph Raneberg auf dem Bildschirm das Bild von Paul Miehling – und öffnen die Akte des nächsten Vermissten. Noch immer sind das mehr als 1,3 Millionen. Man kann sich gut vorstellen, dass sich viele von ihnen einst mit ähnlichen Worten von ihrer Familie verabschiedet haben: „Mach’ dir keine Sorgen, ich komm’ bald wieder!“
50 Millionen Akten mit Suchenden und Gesuchten
Mehr als 300000 Personen namens Müller