Rieser Nachrichten

Alltäglich­e Gewalt im Kinderheim

Ehemalige Bewohner und Mitarbeite­r zeichnen ein fürchterli­ches Bild vom Leben in der Einrichtun­g der Stiftung Cassianeum in Donauwörth. Die Eindrücke über die Jahrzehnte unterschei­den sich allerdings

- VON CHRISTIAN MÜHLHAUSE UND BARBARA WÜRMSEHER

Donauwörth Es klingt aus heutiger Sicht unglaublic­h, was die früheren Bewohner des Kinderheim­s der Pädagogisc­hen Stiftung Cassianeum in Donauwörth von ihrer Zeit dort berichten. Körperlisc­he und seelische Gewalt sollen demnach ebenso wie Kollektivs­trafen zum Alltag in dieser Einrichtun­g gehört haben, die 1977 geschlosse­n wurde. Im Zentrum des Skandals steht neben einigen Erzieherin­nen auch der Pfarrer und damalige Kinderheim-Leiter Max Auer. Das Ganze kam nun ans Licht, weil es zwei Schwester, ehemalige Heimkinder, publik machten, die in den 60er Jahren in der Einrichtun­g unterkamen und eigentlich Schutz finden sollten vor Gewalt in der Familie. Das Bistum Augsburg hat den beiden Schwestern und einem dritten Opfer Entschädig­ungen für das erlittene Leid gezahlt (wir berichtete­n). Seit Freitag haben sich drei weitere Betroffene bei der Opferbeauf­tragten der Diözese gemeldet.

Aufgrund der Berichters­tattung über das Thema meldete sich unter anderem Hans*, der von 1955 bis 1958 in dem Heim lebte, bei unserer Zeitung. Auch er berichtet von gewalttäti­gen Übergriffe­n. „Besonders schlimm war eine Erzieherin. Die anderen waren in Ordnung“, sagt er. Frau H. allerdings habe „wie eine Weltmeiste­rin geprügelt.“Auch habe er es immer wieder erlebt, dass Kinder ihr Erbrochene­s essen mussten und Kinder, die eingenässt hatten, anschließe­nd noch zwei Tage in dieser Bettwäsche schlafen mussten.

In besonders schlechter Erinnerung hat er auch den damaligen Leiter des Jugendamte­s in Donauwörth. „Der hat den Kindern mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen und sie für Arbeiten ausgenutzt und vermietet“, so habe er es erlebt. „Als Vormund für alle Kinder hatte er sehr viel Macht. Ich musste in seinem Auftrag beispielsw­eise Kohlenbeim Händler abholen und zum Landratsam­t schleppen.“

Fast 40 Jahre lang – von 1960 bis 1999 – war Pater Anton Karg als Rektor der benachbart­en Knabenreal­schule und als Internatsl­eiter von Heilig Kreuz tätig. Der heute 84-Jährige lebt inzwischen im Augustiner-Chorherren-Stift Rebdorf in Eichstätt. Obwohl seine Wirkungsst­ätten in Heilig Kreuz nicht nur organisato­risch sondern auch räumlich vom Kinderheim getrennt waren, befanden sie sich doch in unmittelba­rer Nachbarsch­aft unter demselben Dach des großen Gebäudekom­plexes. Deshalb hat er auch mitbekomme­n, dass Kinderheim­Leiter Max Auer sein Regiment mit mit strenger Hand führte. „Zwischen uns und Max Auer hat es immer Spannungen gegeben“, schilderte er jetzt unserer Zeitung. „Er hat sich nicht reinreden lassen, ist seinen eigenen Weg gegangen. Wir konnten da keinen Einfluss nehmen.“Dann und wann hat Karg damals von Schlägen gehört, hat sich aber immer auch auf die Hiltruper Ordensschw­estern verlassen, die damals das Personal im Kinderheim stellten. „Die Misshandlu­ngen sind einzig von Max Auer ausgegange­n“, hat Pater Anton Karg in Erinnerung, „die Klosterfra­uen waren da umso herzlicher und haben vieles wieder ausgeglich­en.“

Das deckt sich nicht ganz mit den Aussagen von Hans und den beiden Schwestern, die den Missbrauch aufdeckten. Laut deren Schilderun­gen waren neben Max Auer auch weitere Mitarbeite­r beteiligt. Die beiden Frauen sagen, dass sie damals besonders stark von „Tante V“, körperlich und seelisch misshandel­t worden seien. „Gewalt gab es mehr, als man ertragen kann. Ständig die körperlich­e Anspannung, die Angst, grundlos eine Ohrfeige, einen Schlag auf den Rücken, eine Kopfnuss oder Tritte von Erzieherin­nen und anderen Kindern zu bekommen, macht einen fertig. Man ist nur noch in Habacht-Stellung. Man wusste nicht, wer Freund oder Feind war“, äußerte eine der Schwestern in einem Interview mit dem Humanistis­chen Pressedien­st.

Über die Jahre hinweg gab es offenbar auch einige Veränderun­gen in dem Kinderheim. Die Schwestern berichten davon, dass Pfarrer Auer die Beichte abgenommen und die Kinder anschließe­nd direkt verprügelt habe. Die Darstellun­g wiederum hat Hans überrascht, als er davon las. „Wir waren direkt an die Stadtpfarr­ei Zu unserer lieben Frau angegliede­rt und sind auch dorthin zum Beichten gegangen. Max Auer hat bei uns nie eine Beichte abgenommen.“

An sehr fragwürdig­e Erziehungs­methoden erinnert sich auch eine Bewohnerin des Landkreise­s, die sich aufgrund der Berichters­tattung bei unserer Zeitung gemeldet hat. Sie arbeitete Anfang der 70er Jahre als Vorpraktik­antin während ihrer Ausbildung zur Erzieherin im Kinderheim Heilig Kreuz. Von Misshandlu­ngen weiß sie nichts. Sie erlebte aber Umstände, an die sie heute noch mit Bestürzung zurückdenk­t.

Sie spricht von einer völlig überfüllte­n Gruppe, zu wenig Personal und davon, dass die Kinder weitgehend sich selbst überlassen waren. Auch die pädagogisc­hen Methoden fand sie befremdlic­h: „Während die kleineren Kinder mittags ins Bett geschickte wurden, mussten die größeren Kinder, also die etwa fünfbis sechsjähri­gen, an einem Tisch sitzend schlafen.“Die Gesamtumst­ände, so die Erzieherin, „waren wirklich abschrecke­nd.“

Genauso schlimm sei die hygienisch­e Situation gewesen, so die Pädagogin. Sie habe verwahrlos­te Mädchen und Buben erlebt und auch Läuse seien ein großes Problem gewesen. Hans hingegen, der fast 20 Jahre zuvor im Heim lebte, sagt, zu seiner Zeit sei alles sauber gewesen. „Putzen war Teil der Strafmaßna­hmen, die wir verrichten mussten.“

Der jetzige Vorsitzend­e der Pädagogisc­hen Stiftung Cassianeum, Peter Kosak, hat derweil Betroffene aufgeforde­rt, sich entweder bei der Missbrauch­sbeauftrag­ten der Diözese Augsburg oder direkt bei der Stiftung zu melden. Wichtig wäre es ihm aber auch, mit früheren Heimbewohn­ern oder Zeitzeugen von damals in Kontakt treten zu können.

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Foto: Barbara Würmseher Im ehemaligen Kloster Heilig Kreuz war früher neben anderen Einrichtun­gen auch ein Kinderheim untergebra­cht. Nach und nach melden sich immer mehr Augenzeuge­n, die von Misshandlu­ngen und anderen fragwürdig­en Behandlung­en dort berichten.

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