99 Arten des Überlebens
Das 20. Jahrhundert war für Schriftsteller vielerorts eine gefährliche Zeit. Einer knappen Hundertschaft hat Hans Magnus Enzensberger nun ebenso kurze wie griffige Porträts gewidmet
Diese Einleitungen! „Über B.B. ist schon alles gesagt. Jeder Winkel seines Daseins ist ausgeleuchtet und ausgelegt worden. Er war jemand, der zu bewundern und zu vermeiden war. Ich wusste, daß er immer ein Ausbeuter war und daß er stank. Alle seine Schüler und seine Anbeterinnen hat er platt gedrückt.“Wer würde bei solchen Sätzen nicht weiter wissen wollen, was uns der eine Autor, Hans Magnus Enzensberger, über den anderen, Bertolt Brecht, sonst noch zu sagen hat?
Und nicht nur über B. B. „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“zeichnet Enzensberger in seinem neuen Buch, Kurzporträts von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die nach Ansicht ihres Porträtisten eines eint: Sie alle sind „Überlebenskünstler“, Literaten und Intellektuelle, die durchkamen in dem an lebensgefährlichen Fallen reich ausgestatteten 20. Jahrhundert. Überlebende – das schließt jene aus, die an den Schrecken zugrunde gegangen und zu Selbstmördern geworden sind. Also sucht man in der Reihe vergebens nach Namen wie Améry oder Benjamin, Celan und Toller, Tucholsky oder Zweig.
Andererseits widmet der Vignettenschreiber Enzensberger nicht nur denen ein Kapitel, die in den Diktaturen des Jahrhunderts als unbotmäßig galten und deshalb um ihre Existenz fürchten mussten. Er nimmt auch jene auf in sein Brevier, die sich durchlavierten, sogar die, die sich auf die falsche Seite schlugen, dabei freilich noch ein gewisses intellektuelles Format behielten wie der Italo-Faschist D’Annunzio. Ihn interessiere eben auch, erklärt Enzensberger, wie man sich ducken und winden und wenden könne. Und er räumt ein: Subjektiv sei seine Auswahl – was auch erklärt, warum Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, zwei fraglos unter Beschuss Geratene, ebenso wie manch anderer keine Aufnahme in die Überlebenskünstlerliste fanden.
Drei, vier, fünf Seiten sind es, die jeweils einem Autoren gewidmet sind. Das nötigt zur Reduzierung. Um nicht in den Schulreferatston zu verfallen, bedient sich Enzensberger deshalb gern beim Anekdotischen. Vignette Nummer 43 ist Carl Zuckmayer gewidmet, doch Enzensberger beginnt gleich vom Sommer 1947 zu erzählen, als er Zuckmayer bei einer Rede in München erlebte. Wo das war, „das weiß ich nicht mehr. Nur dass er sehr sympathisch war und eine schöne Tochter namens Winnetou hatte. Als wir von den würdevollen offiziellen Ansprachen genug hatten, ging ich mit ihr spazieren. Ich war neugierig und wollte wissen, wie sie zu diesem Vornamen gekommen war.“Lebendig werden die Vignetten immer dann, wenn der Autor einem der von ihm Porträtierten selbst begegnet ist. Und das sind im Falle Enzensbergers, Jahrgang 1929, nicht wenige.
Nicht nur die Winnetou-Episode zeigt: Dem Literaten ist das Leben manchmal interessanter als die Literatur. Hermann Broch, der mit seiner Trilogie „Die Schlafwandler“ mithalf, dem deutschsprachigen Roman die Türen zur Moderne aufzustoßen, sind gerade mal zwei karge Seiten gewidmet; T. E. Lawrence dagegen bringt es auf satte vier, aber „Lawrence von Arabien“und seine Abenteuer (weniger sein Buch „Die sieben Säulen der Weisheit“) sind halt auch der farbigere Stoff.
Aber es gibt auch die wirklich elektrisierenden Lebensläufe, und ihr Biotop war vor allem eine Weltgegend: die Sowjetunion. Hier lebte die russische Lyrikerin Anna Achmatowa, nach den Worten der Staatsmacht „halb Nonne, halb Dirne“. Das verhieß unter Stalin nichts Gutes, weshalb die Achmatowa ihre Gedichte auch lieber auswendig lernte und die Manuskripte verbrannte. „Hände, Zündhölzer, ein Aschbecher – ein schönes und bitteres Ritual“, zitiert Enzensberger. Und immer wieder, in der Sowjetunion und natürlich bei den Deutschen, sind es jüdische Literaten, die um ihr Leben bangen müssen. Doch nicht nur in weiten Teilen Europas war es im 20. Jahrhundert gefährlich für Schriftsteller, auch in Spanien und Südamerika machten Diktaturen Jagd auf sie.
Bei den Dutzenden, die ums Überleben zu kämpfen hatten, bei all den interessanten Fällen auch, die ihre Arrangements trafen wie Ernst Jünger oder Gottfried Benn, nimmt sich die ein oder andere Enzensberger-Auswahl doch exotisch aus. Henry Miller, dem attestiert wird, sich von aller Jahrhundertunbill „ferngehalten“zu haben, scheint nur deshalb mitgenommen worden zu sein, um mit einem gezielten Schwerthieb gerichtet zu werden: „Die Monotonie und der blinde Furor der Wiederholungen, die seine Schilderungen regieren, machen die Lektüre zu einer trostlosen Arbeit.“
Rentiert das überhaupt zu lesen, diese Hundertschaft von Kurzlebensläufen mehr oder weniger lang verblichener Literaten? Ja. Weil man bei Enzensberger etwas von Autoren liest, denen man sich sonst kaum je nähern würde. Beispielsweise Johannes R. Bechers „Danksagung“
Im Sommer 1947 die Begegnung mit Winnetou
Stalin im Schwarzwald und am Bodensee
an Stalin, worin die Westwirkung des Sowjetführers so herbeifantasiert wird: „Dort wirst Du, Stalin, stehn, in voller Blüte / Der Apfelbäume an dem Bodensee, / Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte, / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh…“Bei Enzensberger begegnet man auch haarsträubenden Lebensläufen – der Brite P.G. Wodehouse etwa wird im besetzten Frankreich von den Nazis aufgegriffen und nach Schlesien verschleppt. Nicht zuletzt schließt man erste Bekanntschaft mit Unbekannten und Vergessenen wie César Vallejo Mendoza, der einem in seinem Arme-Schlucker-Dasein ganz unvergleichlich nahegebracht wird: „Sein Anzug glänzte, weil er zu oft gebügelt worden war.“Kein Zweifel, Enzensbergers Vignettenbuch ist ein großer Literatur-Verführer.
99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert. Suhrkamp, 366 S., 24 ¤