Wie verteidigt man den WM Titel?
1994 flog eine selbstbewusste deutsche Nationalmannschaft in die USA, um dort ihren Triumph zu wiederholen. Ein Projekt, das aus vielen Gründen scheiterte
Augsburg Eigentlich konnte nicht viel schiefgehen damals 1994 in den USA. Matthäus & Co. hatten vier Jahre zuvor in einer traumhaften römischen Nacht hochverdient den WM-Titel gewonnen. Franz Beckenbauer schlenderte gedankenverloren über den Rasen, während um ihn herum die Welt versank. Hinterher sagte er jenen verhängnisvollen Satz, an dem sein Nachfolger Berti Vogts lange zu tragen hatte: „Die deutsche Mannschaft wird auf Jahre hinaus sehr schwer zu schlagen sein“, prophezeite der Kaiser unter dem Eindruck des Mauerfalls und des Zustroms von Talenten aus den neuen Bundesländern vollmundig. Kaum jemand mochte ihm widersprechen. Das fränkische Energiebündel Matthäus war in der Blüte seiner Jahre, was ihm die Wahl zum bislang einzigen deutschen Weltfußballer des Jahres eintrug. Vier Jahre später in den USA war Matthäus zwar 33 – aber noch immer dynamischer Rudelführer.
Um ihn herum viele 90er Weltmeister. Mit allen Wassern gewaschene Abwehrrecken wie Brehme, Kohler, Buchwald, Berthold und vielversprechende Nachrücker wie Helmer. Im Mittelfeld die SuperDribbler Häßler und Möller und ganz vorne die Top-Stürmer Völler, Klinsmann, Riedle und Kirsten. Das sollte fürs Finale reichen, dachte sich Deutschland, als es seine Weltmeister ins Trainingslager nach Kanada verabschiedete. Zwei Wochen in der Abgeschiedenheit eines Fleckens namens Alliston, zwei Autostunden von Toronto entfernt, bereitete sich der Weltmeister auf seine Titelverteidigung vor. Den Eindruck, den der selbstbewusste Matthäus und seine Weltmeister-Gefährten damals vermittelten: Der Weg ins Finale führt wieder nur über Deutschland. Gestützt worden war diese Zuversicht durch eine Gruppen-Auslosung, die dem Titelverteidiger vermeintliche Leichtgewichte beschert hatte: Bolivien, das zweitklassige Südkorea und Spanien, das damals noch weit von jener überragenden Dominanz entfernt war, mit der die Iberer von 2008 bis 2012 die Fußball-Welt beherrscht haben.
Doch schon der WM-Auftakt gegen den Weltranglisten-43. Bolivien im Glutofen des Soldierfield von Chicago geriet zur Zitterpartie. 1:0, Klinsmann. Ernüchterung beim Weltmeister. Rächte es sich, dass der Weltmeister mit einem Durchschnittsalter von 29,1 in die Jahre gekommen war und der 25-jährige Ersatztorwart Oliver Kahn jüngster Spieler im gesamten Kader war?
Dasselbe gegen Spanien. Wieder ein Klinsmann-Tor, das das 1:1 rettete. Den Höhepunkt der missratenen Vorrunde lieferte die Partie gegen Südkorea. Was mit Treffern von Klinsmann (2) und Riedle geschmeidig begonnen hatte, zog sich bei 45 Grad in der Hitze von Dallas aus deutscher Sicht einem jämmerlichen Ende entgegen. Die Südkoreaner verkürzten auf 2:3. Während ihnen Flügel wuchsen, verloren die müden Weltmeister völlig den Kopf. Allen voran Stefan Effenberg. Als Vogts den Gelb-belasteten und selbst ernannten Tiger vom Platz holte, begleiteten ihn Pfiffe und abfällige Bemerkungen deutscher Fans. Effenberg reagierte darauf mit dem gestreckten Mittelfinger. Der Law-and-order-Trainer Vogts warf das Enfant terrible aus dem Kader und verkündete: „Solange ich für die Nationalmannschaft verantwortlich bin, wird Stefan Effenberg nicht mehr für Deutschland spielen.“Was er nicht ahnte: Vier Jahre später holte er Effenberg zurück. Damals aber schlugen die Wellen so hoch, dass DFB-Präsident Egidius Braun, der sich gerne als moralische Instanz inszenierte, Spitznamen „Pater Braun“, entrüstet erklärte: „Da geht so ein Mensch hin…und erlaubt sich solche Obszönitäten. Lieber keine Nationalmannschaft als eine solche.“
Die deutsche Mannschaft hatte ihren Skandal, der sie erschütterte und spaltete. Nicht alle Spieler waren damit einverstanden, Effenberg nach Hause zu schicken. Wenn dieser Kader tatsächlich einen Teamgeist besessen hatte, dann war er im glühend heißen Dallas verdampft. Schon vorher hatte es Grabenkämpfe um Privilegien gegeben. Einige Spieler wollten ihre Frauen in ihrer Nähe haben, andere waren dagegen. Berti Vogts war den Egotrips seiner Spieler nicht mehr gewachsen.
Dabei begannen jetzt die K.-o.Spiele, in denen sich zeigt, was eine Mannschaft wert ist. Der Gruppensieg bescherte dem angeschlagenen Weltmeister ein Achtelfinale im vertrauten Chicago mit Belgien als lösbarer Aufgabe. Der erste überzeugende deutsche Auftritt. 3:2, Völler (2), Klinsmann. Fing sich der Weltmeister noch einmal? Das bevorstehende Viertelfinale im Giants Stadium von New York gegen Bulgarien, in dem außer Stoitschkow, Kostadinow und der Hamburger Letschkow kaum ein Spieler internationales Renommee besaß, nährte die Hoffnung auf die Wende. Dass die Bulgaren in Krassimir Balakow einen der besten Mittelfeldstrategen besaßen, erfuhren die Deutschen offenbar erst nach dem Anpfiff. Als Jordan Letschkow, bewacht vom eineinhalb Köpfe kleineren Häßler, zum 2:1 für die Bulgaren einköpfte, war die WM für den Weltmeister vorbei. So bitter wie damals war selten ein deutscher Fußball-Traum ausgeträumt.
Und jetzt, da wieder ein deutscher Weltmeister antritt, seinen Titel zu verteidigen? Es könnte der deutschen Mannschaft auf andere Weise ähnlich ergehen. Das überschüssige Selbstbewusstsein des MatthäusRudels wird die 2018er-Auswahl genauso wenig zu Fall bringen wie Grabenkämpfe und Ego-Trips. Dafür sorgen Jogi und sein eingespieltes Team. Andererseits hat der Weltmeister von 2014 Qualität verloren. Für Schweinsteiger, noch mehr für Klose und Lahm, gibt es keinen Ersatz. Wie schwer die Aufgabe wird, verrät die Statistik. Von den 20 Weltmeistern ist es nur zwei Nationen gelungen, den Titel zu verteidigen: Italien 1938 und Brasilien 1962. Oliver Bierhoff hat deshalb vorgebaut. Das Turnier in Russland werde „die schwierigste WM“überhaupt werden, hat der Teammanager prophezeit. Das klingt nicht nach großen Erwartungen.
„Da geht so ein Mensch hin ... und erlaubt sich solche Obszö nitäten“