Haben wir das Faulenzen verlernt?
Einfach mal völlig Abschalten ist nicht nur wichtig für Erholung und Gesundheit. Es ist auch die Voraussetzung für viele unserer besten Ideen. Doch Nichtstun wird heute zu einer hohen Kunst, die vielen von uns immer schwerer fällt
Nicht nur Kreative kennen das Phänomen: Die besten Ideen kommen einem oft in der Badewanne. Nichtstun ist alles andere als eine verschwendete Zeit, wie Wissenschaftler herausgefunden haben. Ganz im Gegenteil sogar benötigt das Gehirn derartige Ruhephasen, um Dinge besser verarbeiten und abspeichern zu können, sich zu regenerieren oder Ideen zu entwickeln. Im Jahr 2000 entdeckten amerikanische Neurologen der Washington-Universität von St. Louis das sogenannte „Ruhezustandsnetzwerk“, eine Gruppe von großen Gehirnregionen, die beim Nichtstun hochaktiv ist. Die Hirnregionen werden aber bei psychologischen Anstrengungen wie dem zielgerichteten Lösen von Aufgaben heruntergefahren. Während wir augenscheinlich unbeschäftigt sind, also nichts tun, nur faulenzen, rumdösen und Löcher in die Luft gucken, arbeiten also Teile unseres Gehirns besonders fleißig.
Der amerikanische Hirnforscher Andrew Smart geht davon aus, dass das „Ruhezustandsnetzwerk“das „reizunabhängige Denken“ermöglicht, also für Tagträumereien zuständig ist, aber eben auch für Vorstellungsvermögen, Zukunftsplanung und Einfallsreichtum. „Es wird tatsächlich dann aktiv, wenn wir an einem sonnigen Nachmittag im Gras liegen, wenn wir die Augen schließen oder während der Arbeit aus dem Fenster starren“, sagt Smart. „In diesen Ruhephasen verknüpft das Gehirn verstärkt Erinnerungen und Empfindungen in freien Assoziationen zu neuen Ideen.“So erklärt sich nicht nur das Phänomen mit den kreativen Einfällen in der Badewanne oder beim Spaziergang, sondern auch manche Denkblockade unter Stress. „Wird das Gehirn mit Reizen wie E-Mails, Anrufen, SMS, Facebook-Updates, dem Checken der To-do-Listen und anderem bombardiert, ist es ständig mit der Herausforderung des Augenblicks beschäftigt“, sagt Hirnforscher Smart. „Chronische Geschäftigkeit kann ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen haben, sie ist schlecht für das emotionale Wohlbefinden, die Selbsterkenntnis, die sozialen Fähigkeiten und kann das Herz-Kreislauf-System schädigen.“
Das gilt natürlich auch für den Urlaub und die Freizeit überhaupt, denn oft genug bleibt auch hier keine Minute mehr zum Nichtstun übrig, weil alles bis zur letzten Minute durchgeplant ist. So kann man natürlich nicht zur Ruhe kommen. Aber viele von uns haben das Nichtstun verlernt, und zwar mit fatalen Folgen für ihr dauerhaftes Wohlbefinden. Psychologen der Universität von Virginia haben dazu ein interessantes Experiment durchgeführt. Die Aufgabe, die der USPsychologe Timothy Wilson und sein Team ihren Versuchsteilnehmern gestellt haben, war denkbar einfach: Sie sollten nichts tun, und zwar rein gar nichts. Lediglich auf einem Stuhl sitzen, mit nichts anderem als ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Das war schon alles. Kein Problem, könnte man meinen, doch weit gefehlt. Nach nur sechs Minuten fühlte sich die Mehrheit der Probanden schon unwohl und gab zu Protokoll, dass dies eine überaus „schwierige Aufgabe“sei. Um ausschließen zu können, dass es vielleicht der einfache und schmucklose Laborraum war, der dieses unangenehme Gefühl hervorgerufen hat, legten die Experimentatoren noch eins nach.
In einem weiteren Versuch durften die Freiwilligen genau die gleiche Aufgabe bei sich zu Hause erledigen. Das Ergebnis war allerdings nicht nur das gleiche – nein, ein Drittel der Versuchsteilnehmer gab sogar später zu, geschummelt und heimlich Musik gehört oder sich mit dem Handy beschäftigt zu haben. Dabei spielte es übrigens überhaupt keine Rolle, wie alt die Probanden waren. „Uns hat überrascht, wie viele ältere Menschen es ebenfalls nicht mögen, rein gar nichts zu tun und nur mit ihren Gedanken allein zu sein“, sagt US-Psychologe Wilson. An der Studie nahmen Freiwillige im Alter von 18 bis 77 Jahren teil. Kann das Nichtstun denn wirklich derart belastend sein?
Um das herauszufinden, wagten die US-Psychologen ein ebenso spannendes wie drastisches Experiment: Wieder ging es darum, nichts zu tun, rein gar nichts, also nur tatenlos auf einem Stuhl zu sitzen, allein mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Dieses Mal änderten die Forscher aber zwei Dinge: Zum einen ging der Versuch über lange 15 Minuten und nicht mehr nur über sechs. Vor allem aber stand den Freiwilligen nun die Möglichkeit zur Verfügung, sich selbst einen schmerzhaften Stromstoß verabreichen zu können, einfach nur, um überhaupt irgendetwas zu tun. Würden sich die Versuchsteilnehmer also lieber selber Schmerzen zufügen als gar nichts tun zu können?
Damit später niemand behaupten konnte, er habe den Stromstoß einfach nur einmal ausprobieren wollen, bekamen alle freiwilligen Versuchsteilnehmer vor Beginn der 15 Minuten langen Testzeit eine Kostprobe des – zwar ungefährlichen, aber in der Tat von allen als schmerzhaft empfundenen – Stromstoßes verpasst. Das Ergebnis der Studie überraschte die Forscher erneut: Zwölf der insgesamt 18 teilnehmenden Männer – also zwei Drittel – drückten den Stromstoßknopf im Testzeitraum mindestens ein Mal. Bei den weiblichen Versuchsteilnehmern waren es immerhin sechs von 24, also ein Viertel der Frauen. Ein Teilnehmer fiel sogar völlig aus den Rahmen und verabreichte sich selbst ganze 190 Stromstöße in 15 Minuten. Studienleiter
Das Gehirn schaltet in einen Modus für Kreativität
Ein paar Tricks erleichtern wertvolle Auszeiten
Wilson war selbst von dem Testergebnis überrascht: „Den Versuchsteilnehmern war es sogar lieber, sich einen Stromstoß zu verabreichen als gar nichts zu tun.“
Aber was kann man tun, wenn einem das eigentlich wichtige Nichtstun so schwerfällt? Es gibt durchaus eine ganze Reihe von Tipps und Tricks, die einem das Faulenzen erleichtern. Die Liste der Psychologen klingt dabei recht simpel: Lange Spaziergänge im Park oder Wald machen, die Natur genießen, den Vögeln zuhören. Ein ausgedehntes Bad nehmen. Die pure Langeweile zulassen. Sich ein Aquarium anschaffen und regelmäßig reinschauen. Das Handy in der Freizeit abschalten. In Ruhe eine leckere Mahlzeit genießen. Tagträumen nachhängen und sich bewusst für eine Zeit des Nichtstuns entscheiden. Allerdings nebenbei Musik zu hören, Fernsehen zu schauen, zu lesen, zu erzählen oder gar Sport zu machen, zählen die Psychologen dabei ausdrücklich nicht zum wertvollen Nichtstun. Wer es trotzdem nicht schafft, öfter mal überhaupt nichts zu tun, der sollte ruhig einmal daran denken, einen Fachmann zurate zu ziehen. Denn Nichtstun ist gar nicht so einfach, sondern in den heutigen Zeiten eine hohe Kunst.