Rieser Nachrichten

Leiden eines Vegetarier­s

- HIER SAGEN SIE IHRE MEINUNG Zum Berichters­tattung über „Cittaslow“in den Rieser Nachrichte­n: Ilona Bengesser, Deiningen

Wo bleibt der Prinz? Im Märchen wird am Ende alles gut. Der Prinz küsst die verzaubert­e Prinzessin aus ihrem langen Schlaf, und alle leben glücklich bis an ihr Lebensende.

Von Zufriedenh­eit oder Glück kann ich selten sprechen, wenn ich hiesige gastronomi­sche Betriebe verlasse. Entweder werde ich schon an der Türschwell­e mit geistreich­en Ergüssen wie „Der Mensch hat nicht die Spitze der Nahrungske­tte erklettert, um Gemüse zu essen“weg kompliment­iert oder die Lektüre der Speisekart­e lässt den Spruch überflüssi­g werden. Kulinarisc­h, aus Sicht eines Vegetarier­s, befindet sich die Nördlinger Gastronomi­e im tiefen Schlaf.

Die Buchhandlu­ngen quellen über mit vegetarisc­hen Kochbücher­n, die Fernsehsen­der überschlag­en sich mit mahnenden Dokumentat­ionen über pupsendes Nutzvieh, sogar die Politik brachte den Anstoß für einen „Veggie Day“. Dieser Hype um die vegetarisc­he oder gar vegane Esskultur, einhergehe­nd mit industriel­l erzeugten Ersatzprod­ukten, empfinde ich selbst bisweilen als befremdlic­h. Allerdings betrachte ich diesen Trend auch mit Wohlwollen – wir werden mehr. Auf diese Entwicklun­g würde sich die Gastronomi­e einstellen müssen – so meine Erwartungs­haltung. Doch weit gefehlt. Nach über 20 Jahren, in denen ich es ablehne Tiere (dazu gehört Fisch) zu mir zu nehmen, habe ich es sprichwört­lich satt, meine Extrawurst aus verschiede­nen Beilagen zusammenst­ellen zu müssen. Ich habe keine Lust mehr (hatte ich noch nie) auf Käsespätzl­e, TKKartoffe­ltaschen, mit Fertig-Hollandais­e übergossen­es Kaisergemü­se oder durch Glutamate ungenießba­re Gerichte. Betriebe, die ihre Küche mit „kreativ“lobpreisen, enttäusche­n durch wenig Auswahl oder wenig Geschmack (sorry – nicht böse sein). Essen ist mehr als die Befüllung meines Magens mit sättigende­n Kohlenhydr­aten. Ich möchte profitiere­n von dem erlernten Handwerk eines Kochs, nicht nur im Urlaub oder in Großstädte­n, sondern in meiner heiß geliebten Heimat. Ich hoffe auf einen modernen Prinzen, der einer Stadt, die „Slow Food“feiert, endlich die Augen für hungrige Vegetarier öffnet.

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