Die heilende Kraft der Bäume
Viele denken, wenn sie vom „Waldbaden“hören, an einen esoterischen Wohlfühl-Trend. Doch Wissenschaftler haben erforscht, dass Waldspaziergänge einen einzigartigen Effekt für die Gesundheit haben – und warum uns der Wald so guttut
Kann allein der Anblick von Bäumen die Genesung nach einer Operation beschleunigen? Roger S. Ulrich, klinischer Psychologe an der Universität von Uppsala in Schweden, wollte das genauer wissen und führte eine interessante Studie durch. Patienten, die gerade frisch an der Gallenblase operiert waren, verlegte er sofort nach der OP in ein Krankenhauszimmer, das nur ein einziges Fenster aufwies. Mit einem Blick durch dieses Fenster konnte die eine Hälfte der Patienten auf eine Reihe von Bäumen sehen, die andere Hälfte der Patienten schaute durch ihr Fenster lediglich auf eine Ziegelsteinmauer. Schon nach wenigen Tagen lagen die Ergebnisse der Studie vor: Die Patienten, die auf die Bäume blicken konnten, benötigten deutlich weniger Schmerzmittel und konnten einen Tag früher aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Solche Untersuchungsergebnisse stießen in den achtziger Jahren vor allem in Japan auf offene Ohren. Zu dieser Zeit nahmen dort die Fälle von „Karoshi“immer mehr zu, also dem „Tod durch Überarbeitung“. Die Behörden gerieten damals zunehmend unter Druck und mussten sich etwas einfallen lassen, was sie den Herzinfarkten, Hirnschlägen und Selbstmorden entgegensetzen konnten, die durch ein zu hohes Arbeitspensum und den damit einhergehenden Stress verursacht wurden. Eine der Lösungen hieß „ShinrinYoku“, was übersetzt in etwa so viel bedeutet wie „den Wald in sich aufnehmen“, bei uns sagt man heute auch „Waldbaden“.
Dieses Waldbaden ist nichts anderes als ein gemütlicher Waldspaziergang, bei dem man den Wald aber ganz bewusst genießt, die frische Waldluft einatmet, dem Blattrauschen lauscht, die Schönheit der Bäume in aller Ruhe betrachtet, den Vogelgesang verfolgt und auch ruhig ausgedehnte Pausen macht, wenn einem danach ist. Joggen und andere Aktivitäten, wie etwa Fitnesstraining oder Musikhören, sind beim Shinrin-Yoku ausdrücklich tabu. Und es wirkt. So gut sogar, dass Waldbaden in Japan und Korea inzwischen von Medizinern zur Vorbeugung gegen Stress und verschiedene Zivilisationskrankheiten empfohlen und von Krankenversicherungen bezahlt wird. Inzwischen gibt es in ganz Japan über 60 spezielle „Waldheilpfade“.
Allein in den Jahren 2004 bis 2012 investierten japanische Behörden rund 3,5 Millionen Euro in die wissenschaftliche Erforschung der psychologischen und physiologischen Wirkungsweisen des Shinrin-Yoku. „Waldbaden gibt wieder neue Kraft“, sagt Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio, „und kann dabei helfen, nicht durch Stress krank zu werden.“Als einer der ersten Mediziner, die sich wis- senschaftlich ausführlich mit dem Waldbaden befasst haben, weiß Qing Li: „Waldbaden kann den Blutzuckerspiegel sowie den Blutdruck senken, die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Speichel reduzieren und gegen Nervosität helfen.“
Interessanterweise fanden die Tokioer Forscher diese positiven Einflüsse auf die Gesundheit nur bei Waldspaziergängen bestätigt, nicht aber bei Spaziergängen durch eine baumlose Stadt. Qing Li hat dazu zusammen mit Tomoyuki Kawada gleich eine ganze Reihe von interessanten Studien durchgeführt, bei denen die Wissenschaftler ihre Versuchsteilnehmer auf Herbstspaziergänge in den Wald und in die Stadt schickten.
Am ersten Tag sollten die Probanden lediglich einen einzigen Spaziergang von nur 2,5 Kilometern Länge in zwei Stunden absolvieren und am zweiten Tag ganze zwei derartiger Spaziergänge – jeweils in der ihnen zugewiesenen Umgebung – also entweder im Wald oder im baumfreien Stadtgebiet.
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind interessant, wie Forschungsleiter Qing Li betont: „Wir haben festgestellt, dass das Waldbaden den Spiegel der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin signifikant gesenkt hat, während die Stadtspaziergänge keinen derartigen Effekt hatten. Das Waldbaden hat zudem die Anzahl der natürlichen Killerzellen des Immunsystems signifikant erhöht, deren Aktivität gesteigert und auch die Bildung von Anti-Krebs-Proteinen angeregt – ebenfalls wieder im Gegensatz zum Stadtspaziergang.“
Das Erstaunliche daran: Auch sieben Tage nach dem Waldbaden ließen sich diese Effekte noch nachweisen, in einigen Fällen sogar bis zu 30 Tage lang.
Aber woher kommt diese Heilwirkung des Waldes, wer oder was ist dafür verantwortlich? „Bei unserer Untersuchungen konnten wir verschiedene Phytonzide in der Waldluft nachweisen, wie etwa Isoprene, Alpha-Pinene, Beta-Pinene und Limonene, von denen wir den-
Ein Stadtspaziergang hat die Heilwirkung nicht
Das Geheimnis liegt tatsächlich in der Waldluft
ken, dass sie eine wichtige Rolle spielen“, sagt Li. Phytonzide sind Abwehrstoffe, die Pflanzen bilden, wenn sie von Insekten angefressen oder von schädigenden Pilzen, Bakterien oder Viren befallen werden. Die Bäume geben diese chemischen Verbindungen auch in die Waldluft ab, die wir dann bei einem Waldspaziergang einatmen.
Es ist also keinesfalls nur die reine, saubere Luft im Wald oder ihr hoher Sauerstoffgehalt, der für die positiven gesundheitlichen Effekte verantwortlich ist. Es liegt im wahrsten Sinne des Wortes viel mehr in der Luft. Bei der Frage aber, wie diese und andere Stoffe im Detail auf den menschlichen Organismus einwirken, steht die Forschung erst noch am Anfang.
Aber auch die Geräusche des Waldes machen das Waldbaden zu einem ganzheitlichen Erlebnis. Die absolute Stille, das leise Blattrauschen, aber auch der Gesang der Vögel sorgen dafür, dass der Organismus zur Ruhe kommt und sich vom allgegenwärtigen Großstadtlärm erholen kann. Dennoch will Qing Li die positiven Effekte des Waldbadens auch nicht überbewerten: „Wenn Sie wirklich krank sind, brauchen Sie keinen Wald, sondern einen Arzt.“