Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (137)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch.
Es gab für ihn nichts mehr zu tun, und eine heisere, versoffene Stimme flüsterte: ,Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges…‘
Eine Zeitlang ging es dann wieder besser. Kufalt entdeckte eine Leihbibliothek und las und trank die Nächte durch in seinem Bett und verschlief fast den ganzen Tag. Und stand erst gegen Abend kurz vor sieben auf, raste in die Bibliothek, um noch vor Ladenschluß seine zwei, drei neuen Bände zu bekommen.
Aber dann entzündete sich sein Hirn nicht mehr an diesen Geschichten. Er nickte über ihnen ein. Er konnte sich nicht mehr als ihr Held träumen, und er ging wieder ziellos durch die Straßen, immer durch Straßen und Anlagen, und ließ es Nacht werden und trank eilige Schnäpse in kleinen Kaschemmen, eilig, als hätte er wirklich Eile, und rannte los: ,Heute nacht gehe ich noch um die Binnen- und Außenalster, damit ich richtig müde werde.‘ Aber er wurde nicht richtig
müde. Und doch war es nicht bei solch einem Spaziergang durch verlassene, nächtliche Anlagen, daß er zum erstenmal wieder in diesen unheilvollen Wochen etwas tat. Nein. Es war in den richtigen Straßen, wo man jede Sekunde einem Menschen, einem Schupo gar, begegnen konnte. Es kam ganz überraschend. Er war sich hinterher ganz sicher, daß er nie vorher daran gedacht hatte. Vielleicht hatte er ein bißchen viel getrunken. Vielleicht lag es daran. Er war irgendwo in Eilbek gewesen oder in Hamm. Er erinnerte sich später nicht mehr genau, wo es das erstemal gewesen war.
Es war spät in der Nacht. Vor ihm ging irgendeine Frau oder ein Mädchen und die Straße war einsam. (Aber darauf hatte er nicht einmal sehr geachtet.)
Plötzlich war er neben dem Mädchen gewesen und hatte flüsternd zu ihr gesagt: „Na, Fräulein, wie ist es denn mit uns?“
Sie hatte ihn wütend von der Seite angesehen und irgend etwas Alber- nes gesagt wie: „Lassen Sie mich zufrieden oder ich schreie.“
So etwas.
„Na, schrei doch“, hatte er gesagt und sie plötzlich mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Und mit einem Ruck hatte er die Handtasche an sich gerissen und war um die Ecke. Wie sie schrie.
Ach was, sie schrie eben! Aber das hatte ihn wenig zu kümmern. Er hatte im Bunker schon ganz anders schreien gehört. Da hatte er auch nicht helfen können.
Jeder helfe sich selbst. Darum war er auch längst gemütlich um die nächste Ecke. Es war ihm warm und wohl, als er in einen Autobus stieg und nach Haus fuhr. Er hatte endlich wieder etwas getan, und in dieser Nacht schlief er ausgezeichnet.
Zweifellos, eine ärmliche Tasche, diese erste Tasche. Aber war es ihm denn um die Tasche zu tun gewesen? Sieben Mark zwanzig, zwei Schlüssel, ein zerknülltes Taschentuch, ein gesprungener Spiegel. Er aber hatte noch fünfhundert Mark im Haus. Was gingen ihn Taschen an! Ihn ging an: der angstvolle Blick, die fliehende Gestalt, das schmerzliche Schreien; ihn ging an, daß er nicht mehr der Letzte, der Getretenste von allen war, sondern daß auch er noch treten und Schmerzen bereiten konnte. Ja, sieh einmal, du brauchst wahrhaftig nicht jeden Abend loszugehen und eine Tasche zu klauen und einem Mädchen ins Gesicht zu schlagen. Das hast du nicht nötig. Aber wenn dir so ist, dann wirst du es tun. Und wenn die Welt grau vorher war und zerschlagen, so ist sie hell von neuem, wenn du den Schlag führst und heil, weil auch andere Schmerzen leiden.
Du kannst jetzt sitzen. Willi Kufalt, im Zimmer deiner Frau Pastorin, du kannst mit ihr plaudern über den Kuhstall, und wie es war, als Pastor Fleeges ihr erstes Kalb kriegten und keiner wußte recht Bescheid, und dann war’s doch da und taumelte auf seinen Beinchen und zog ganz richtig am Euter. Aber wenn es während solcher Erzählung draußen klingelt und der Gasmann kommt und die alte Frau muß bezahlen, so siehst du zu, wie sie einen Schlüssel aus ihrem Schlüsselkorb nimmt, und es ist ein kleiner, einzelner, glatter Schlüssel mit einem gezackten Bart, das merkst du dir. Und sie schließt damit das Vertiko auf und holt daraus einen Nähkasten hervor. Den Einsatz aus dem Nähkasten nimmt sie hoch. Merke dir weiter, darunter liegt das Bargeld, das sie im Haus hat, und daneben ein Sparkassenbuch.
Während sie aber draußen mit dem Gasmann spricht, stehst du ruhig und leise auf, und dein Herz klopft nicht schneller und du siehst nach: es ist nicht viel Bargeld, an die hundert Mark nur, aber auf dem Sparkassenbuch stehen vierzehnhundert Mark. Und die Kontrollmarke zum Sparkassenbuch liegt hübsch darin. Ja, dann kommt die Alte wieder herein und packt ein und schließt ab, und du plauderst weiter mit ihr und du denkst ruhig daran, daß du irgendwann einmal, nächste Woche etwa, oder in zwei Monaten, dies Geld und das Sparkassenbuch nehmen wirst.
Und wenn du das hast und bist weg, und sie findet die leere Wohnung und sie entdeckt das Fehlen des Geldes, dann wirst du dich, fünfzig Straßen weiter in deinem neuen Zimmer, bei einer andern Wirtin, freuen und finden, daß die Welt wieder einmal in Ordnung ist. Die Stadt ist dunkel und trübe. Es war nicht hell am Tage, es wird nicht dunkel in der Nacht. Immer schleicht irgendwie der Mond dazwischen und die Büsche haben Zweige, die wie Arme deuten, und du bist nicht allein, so einsam du auch gehst, und jeder Zweig deutet hin auf das Handwerk, das du auszuüben hast. Hinter deinem Bett steht ein Handkoffer. Er ist nicht Vulkanfiber, er könnte aber beinahe Vulkanfiber sein. Und in diesem Handkoffer liegen vierzehn Handtaschen. Du nimmst sie manchmal in die Hand und versuchst, dich zu erinnern. Aber was hat Erinnern für einen Sinn? Es ist immer dasselbe gewesen und es ist umsonst, daß du am frühen Morgen, wenn du alt und müde bist, in deinem Bett liegst und du nimmst die Taschen zur Hand und du versuchst: das war dieses Gesicht und das jener fein gemalte Mund und du hast zugeschlagen mit aller Kraft und die feine Nase zerplatzte und wurde dumm, roh. Umsonst, umsonst, du mußt heute abend noch einmal gehen. Verschollen, verblichen. Noch einmal und noch einmal und dir ist doch schon, als tauchte immer die gleiche Schiebermütze auf über irgendeinem Dummen-Jungengesicht, dummen Achtgroschengesicht, wenn du das Haus verläßt. Und das Gesicht latscht dir nach unter der Schirmmütze, und du gehst listige Wege. Aber du weißt ganz gut, du hast immer denselben Überzieher an und immer den gleichen Hut auf, und es gibt vierzehn Beschreibungen von dir auf der Polizei, und heute abend und morgen abend und übermorgen abend und vierzehn Tage Abend wirst du eine Pause einlegen müssen, weil sie dir auf der Spur sind. Schirmmütze mit einem Achtgroschengesicht darunter…
»138. Fortsetzung folgt