Muss dieses Kunstwerk verschwinden?
Der Bezirk Schwaben hat vor zwei Jahrzehnten eine Arbeit erworben, die an die Ermordung psychisch Kranker erinnert. In Irsee soll das Werk nun von seinem Platz weichen
Irsee Während der NS-Diktatur wurden in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 2000 Patienten zu Tode gehungert oder gespritzt. Das ehemalige Kloster Irsee, wenige Kilometer von Kaufbeuren entfernt, war die Zweigstelle der Anstalt, ein Haus mit Tradition: Seit 1848 diente Irsee als Psychiatrie, in Bayern eine der ersten ihrer Art.
Nach Schließung der Krankenhaus-Außenstelle wurde das Kloster in den 1970er Jahren umgewidmet und dient dem Bezirk Schwaben seit 1981 als Schwäbisches Tagungsund Bildungszentrum. Nur ein kleiner Gebäudeteil, an der Nordflanke der Klosterkirche gelegen, blieb davon unberührt: die Prosektur, die einst der Sektion und Aufbewahrung der Leichen diente. Erst Mitte der 90er Jahre wurde sie wieder geöffnet, und der damalige Direktor des Bildungszentrums entschied, den Raum, in dem noch der originale Seziertisch stand, auf dem willkürlich Organe zu Forschungszwecken entnommen worden waren, als Gedächtnisort in seinem vorgefundenen Zustand zu belassen.
Um in dem nüchternen Raum jedoch den Kontext herzustellen zur NS-Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt, erwarb der damalige Bildungszentrums-Direktor Rainer Jehl ein Kunstwerk der Münchner Künstlerin Beate Passow. Eine dreiteilige Arbeit, die unter Verwendung von Patientenfotos aus der NS-Zeit entstand, Aufnahmen, die dem ehemaligen Direktor des Kaufbeurer Bezirkskrankenhauses, Michael von Cranach, anonym zugespielt worden waren. Die drei Fotos zeigen jeweils ein nacktes, ausgemergeltes, im Ausdruck höchst jammervolles Kind, das von zwei Pflegerinnen festgehalten wird. Im unteren Bildsegment stellt der Ausriss einer Korrespondenz zwischen der Anstalt und einem Kemptener Lungenarzt von 1944 den Bezug zur Heil- und Pflegeanstalt her.
Mehr als 20 Jahre hing Passows Triptychon in der Prosektur. Nun aber gibt es beim Hausherrn, dem Bezirk Schwaben, massive Bedenken gegen das Kunstwerk an diesem Ort. Am Donnerstag beschloss der Werkausschuss einstimmig in nicht öffentlicher Sitzung, die Prosektur zu schließen, „bis ein neues Konzept für die Gedenkstätte erarbeitet und umgesetzt ist“.
Unbehagen schafft das Kunstwerk dem Bezirk laut einer Pressemitteilung aus dreierlei Gründen: Recherchen haben ergeben, dass mindestens eines der abgebildeten Kinder nicht in der Irseer Zweigstelle war. Ferner handele es sich bei den von der Künstlerin verwendeten Bildern um „Fotografien wider Willen“, die die Täterperspektive einnähmen, wodurch die Opfer anhaltend „gedemütigt und stigmatisiert“würden. Nicht hinnehmbar sei zudem, dass die Briefausschnitte den Eindruck erweckten, in der Prosektur seien Menschenversuche vorgenommen worden. Stefan Raueiser, der heutige Leiter des Bildungszentrums und treibende Kraft einer Neugestaltung der Prosektur, versichert, dass er die künstlerische Aussagekraft des Triptychons nicht infrage stelle. „Ich habe nur ein Problem damit, dass das Kunstwerk in der Prosektur hängt.“
„Raueiser liest Kunst wie ein Verkehrszeichen“, ereifert sich Künstlerin Beate Passow. „Er und die Ausschussmitglieder haben sich disqualifiziert, was die Kunst angeht.“Sie macht geltend, dass es ihr bei der Entstehung ihrer Arbeit gar nicht um dokumentarische Exaktheit gegangen sei, sondern um eine typisch-allgemeingültige Darstellung des Geschehens, wie es in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee stattgefunden habe. Für diese Belange ihrer Arbeit hält sie die Frage, ob die abgebildeten Kinder nun in Irsee oder in Kaufbeuren gequält wurden, für nicht relevant. Bedenklich findet sie den Vorwurf des Bezirks, durch ihre Darstellung sich die „Täterperspektive“zu eigen zu machen, gar Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Oper zu verletzten. „Wie kann man Realität ausklammern wollen?“, fragt die Künstlerin und setzt hinzu: „Soll man die Euthanasie überschminken? Soll man Auschwitz jetzt ummalen?“
Tatsächlich wirft das Vorgehen in Irsee, bei dem sich der Bezirk auf einen Wandel in der Gedenkstättenkultur beruft, Fragen auf. Soll man künftig die Bilddokumente der ihres Menschseins beraubten Opfer wirklich nicht mehr zeigen, selbst dann nicht, wenn sie nicht von den Tätern, sondern den Befreiern der Opfer aufgenommen wurden? Macht man nicht gerade dann die Geschundenen noch mal zu Opfern, wenn man ihr Leiden vor dem Hinsehen verschließt? Bedarf unser Gedenken, damit das „Nie wieder!“auch künftighin von einem starken Impuls getragen bleibt, nicht mehr des Bilddokuments, auf dem die unfassbare Entwürdigung festgehalten ist? Spielt man mit dieser correctness letztlich nicht sogar den Relativierern, den Leugnern in die Hände, die sowieso gerade mächtig Auftrieb verspüren?
In Irsee, wo das Gutachten einer Heidelberger Medizinhistorikerin mit der Empfehlung, die Prosektur einer Neukonzeption zu unterziehen, bereits vorliegt, wartet man jetzt auf zwei weitere in Auftrag gegebene Gutachten. Geklärt werden soll dabei unter anderem, um wen es sich bei den auf Passows Triptychon gezeigten Kindern tatsächlich handelt. Daran anschließend, sagt Bildungszentrums-Chef Raueiser, soll eine Kommission gebildet werden zum Zweck einer Empfehlung an den Bezirk, wie letztlich mit Prosektur und Kunstwerk verfahren werden soll. In einer solchen Kommission, wünscht sich Beate Passow, sollten aber nicht nur Historiker vertreten sein. „Ich fordere, dass in paritätischer Zahl auch Kunstgutachter mit vertreten sind.“
Aufnahmen aus der „Täterperspektive“