Harburg Befreiende Niederlage
Karl Martin Graß hält einen Vortrag zu einem dunklen Kapitel in der Harburger Geschichte, dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945
Den traditionellen geschichtlichen Vortrag beim Harburger Kulturherbst hielt der in Harburg lebende Historiker Karl Martin Graß. Er behandelte das Jahr 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und den anschließenden Neubeginn, und wählte vor allem Begebenheiten aus, die mit persönlichen Erinnerungen verknüpft waren. Für die Harburger Verhältnisse konnte er zudem auf seine Forschungen im Stadtarchiv und auf Beiträge in den Harburger Heften zurückgreifen.
Graß begann mit eigenen Erlebnissen als Schulkind, etwa einer Zugfahrt mit seiner Mutter im Juli 1944 von Landau in der Pfalz nach Harburg, wo er bei den Großeltern die Ferien verbringen sollte. Unter normalen Umständen eine Reise von wenigen Stunden, konnte das Ziel diesmal erst nach großen Umwegen und Zwangspausen wegen drohender Fliegerangriffe am nächsten Tag erreicht werden. Aus den Ferien wurde ein längerer Aufenthalt, da Harburg den Eltern we- gen des Kriegs sicherer erschien als Landau. Der Bub besuchte also in den letzten Kriegsmonaten auch die dortige Volksschule.
Eine Erinnerung an seine nationalsozialistische Lehrerin, die Ehefrau des Kunstmalers Erich Martin Müller: Sie begann den Unterricht mit einem zackigen „Heil Hitler“– und ließ dann das Morgengebet halten. Als die Front näher rückte, beobachteten die Buben von einem Hügel aus die Beschießung des Bahnhofs durch Tiefflieger. Es folgten die Sprengungen der Eisenbahnbrücken durch Wehrmachtssoldaten, bei Katzenstein beginnend, dann bei Ronheim, im Egelsee und am Bahnhof. Zuletzt wurde am 24. April 1945 um 6 Uhr morgens die Steinerne Brücke gesprengt, mit Riesenknall und Trümmereinschlag in der ganzen Umgebung.
Das Einrücken der US-Truppen beendete für Harburg den Krieg. Unmittelbar danach der Neubeginn mit einem Notsteg und Feuerwehrleitern über die Wörnitz. Verboten wurden von den Amerikanern nächtlicher Ausgang zwischen 19 und 7 Uhr, das Verlassen des Orts, jede politische Betätigung. Alle Waffen mussten abgeliefert werden, aber auch Brieftauben und Fotoapparate. Der Referent schilderte die Schwierigkeiten für den von der Militäradministration ernannten ersten Bürgermeister Buser, das Leben in seiner Stadt wieder in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken: Es gab keine Radiosendungen, kein Telefonnetz mehr, Nachrichten wurden ausgeschellt oder angeschlagen. Es herrschte Not in jedem Bereich des Lebensbedarfs.
In den folgenden Jahren wurde es noch schlimmer. Der Sommer 1947 war trockener als der von 2018 und sorgte für sehr schlechte Ernte. Kohle und Benzin waren kaum zu erhalten. Der Onkel des Referenten betrieb einen Lkw mit Holzgas mittels einer Art Heizofen auf der Ladefläche. Seit Anfang 1946 kamen Vertriebene und wurden vom Wohnungsamt zwangseinquartiert. Die Bevölkerungszahl Harburgs stieg 1946 von 1380 auf 2580 Einwohner und in vielen Wohnungen herrschten chaotische Verhältnisse.
Graß beschrieb auch die Probleme, die mit der sogenannten Entnazifizierung verbunden waren, der Suche nach verantwortlichen Nationalsozialisten und ihrer gerechten Bestrafung. Ein Begriff für viele Harburger ist noch heute die „NaziAllee“, die Bäume, die 1946 von den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern auf Weisung der US-Behörden entlang der Brünseer Straße gepflanzt werden mussten.
Graß ließ den Gang durch dieses Kapitel Harburger Geschichte mit der ersten Aufstellung von Parteilisten (CSU, SPD) und der ersten Stadtratswahl 1946 enden. Abschließend bemerkte er: Der Stellenwert des Nationalsozialismus in der Geschichte müsse vor allem an seinen fürchterlichen Folgen bemessen werden, die vielen nicht genau bewusst seien. Die Frage, ob 1945 Niederlage oder Befreiung gewesen sei, beantwortet er so: „Befreiung durch Niederlage.“An den Vortrag schloss sich ein lebhafter Austausch mit den Zuhörern an, die viele Fragen stellten, aber auch eigene Erinnerungen beitrugen.