Kein Rokoko, ein Rah-kra-kra
Dichtung Jan Wagner hat mit seinem letzten Lyrikband einen Bestseller gelandet. Nun gibt es endlich neue Gedichte des Büchnerpreisträgers. Wie ist die Sammlung geworden?
Er hat sich Zeit gelassen mit der Veröffentlichung neuer Gedichte, und das wundert nicht. Denn der letzte Gedichtband hatte es nicht nur in die Bestsellerliste geschafft – wann passiert das schon mal einer Lyriksammlung! –, der Autor hatte dafür auch den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Und dann hat Jan Wagner im vergangenen Jahr auch noch den Büchnerpreis zugesprochen bekommen, die renommierteste aller deutschen Schriftstellerwürden. Versteht sich, dass die Erwartungen in die Höhe gingen, beim Publikum wie vermutlich auch beim Dichter selbst.
Jetzt aber, vier Jahre nach den gefeierten „Regentonnenvariationen“, ist der neue Band erschienen. Und die virulente Frage, was für einen Jan Wagner man nach dem langen Schweigen in diesen knapp 60 Gedichten antreffen würde, lässt sich nun rasch beantworten: Man begegnet einem vertrauten, souverän im Fahrwasser gebliebenen Autor, auch wenn der Titel des Bandes zunächst irritieren mag: „Die Live Butterfly Show“. Mag das an Rodeo oder Las Vegas erinnern, beim Lesen des gleichnamigen Gedichts wird klar, es geht um Schmetterlinge und den Tanz, den sie vollführen. Und man erkennt: Von seiner großen lyrischen Fundgrube, der Natur, mag Jan Wagner auch weiterhin nicht lassen. Stets aufs Neue überrascht folgt man seinem poetischen Verfahren, mög- lichst nah heranzurücken an all das Lebendige, was ihn und uns umgibt und das wir – nicht er – meist gar nicht wahrnehmen.
Das Gewese dieser schwarzen Vögel zum Beispiel, das er im Gedicht „kleiner krähenhymnus“allein schon lautlich virtuos einfängt: „kein rokoko, / ein rah-kra-kra, / ein dialekt aus moskau oder riga“. Krähen, eingefangen in ausgesuchten Bildern: Die Vögel „zerren an der nachgeburt / des winds, der weißen plastiktüte“. Im weiteren Verlauf sind sie auch „wüstlinge im porzellanladen / einer magnolie“. Minimum der Worte, so viel gesagt.
Schon hier wird deutlich, dem Dichter, der in diesen Tagen 47 Jahre alt wird, ist nicht an Idylle gelegen, ein Vorwurf, der immer mal wieder gern auf Wagner abgefeuert wird. Einige der Gedichte enthalten ausgesprochen kritisches Potenzial, was das Verhältnis zwischen Mensch und Natur betrifft, doch Wagner streicht das nicht plakativ heraus, lässt das lieber im Windschatten mitlaufen. Wie in dem großartigen Gesang vom Marder, der porträtiert wird als ein tierischer Nimmersatt im Taubenschlag: „eindringling, räuber, marder / inmitten all der sanften märtyrer, // der gurrenden boten; taube um taube entkorkend / und saufend, ein gargantua, / derweil es ringsum flattert, flattert, / derweil es ringsum flattert // und flattert, mit befleckt- / em latz, bis alles still ist und perfekt“. Uns zarte Gemüter empört natürlich – Wagner hat das mit seinem Tauben-Gourmand glänzend herausgearbeitet –, wie die Natur da unter sich wütet. Doch der „kannibale“, das notiert Wagner genau, ist als Naturwesen „schuldlos“. Was je- doch der Mensch, der über die gezüchteten Tauben selbst verfügen will, gar nicht versteht, weshalb er anrückt „mit knüppel / und mistgabel, dreschflegel, / sense, spaten, axt und pechfackel“. So eingekreist, sieht das Tier „das publikum, außer sich, rasend“. Der Marder könnte dieser Tage auch der Wolf sein.
Wagners Sprache ist bis in die feinsten Verästelungen geschliffen, dabei niemals papieren, und nur in Ausnahmefällen geht das assoziative Temperament mit ihm durch wie im Gedicht vom Lateinlehrer, der sich von seinen Schüler-„barbaren“durch nichts weiter getrennt sieht „als den hölzernen rhein der tische“– da ist den Tischen zu viel aufgepackt. Den Reim hingegen kann man gelassener kaum verwenden, als es Wagner tut, mal am Zeilenende, mal mitten im Vers, mal in reiner Form, mal nur als vager lautlicher Anklang. Und die überkommenen Formen, derer sich der Dichter gerne bedient, das Sonett etwa, erscheinen in freier Anverwandlung. Ein Markenzeichen von Wagners Sprachkunst ist der Sog, die Strophe um Strophe in weit ausgestreckten Satzperioden entstehen.
Natürlich ist auch in der „Live Butterfly Show“, wie schon in Wagners bisherigen Sammlungen, nicht alles nur der Natur abgelauscht und -geschaut. Ein anderes Themenfeld bilden Erinnerungen – des lyrischen Ichs, vielleicht des Verfassers selbst – an Kindheits- und an Jugendtage. Auch in solchen Retrospektiven ist Wagner ein bemerkenswerter Beobachter: „ich war sechs jahre alt und unsinkbar“– dies letzte eine Wort genügt, um das Kindergemüt festzuhalten, ebenso wie die sich anschließende kollektive Erfahrung: „etwas ging zu bruch an jenem tag / und es war nicht nur glas…“Eine Jugenderinnerung schlägt sogar einen für Wagner ungewohnten Ton an: „ich sehe uns noch: ein grölendes pack / von halb- und viertelstarken, verwegen, / trunken von freundschaft und doppelbock“. Mehr davon!, möchte man Wagner zurufen, weil er das Rotzige dieser „parkhaustage“gleich wieder in ein genuin lyrisches Bild überführt: „die rampe, wo die pfauenfeder / aus öl noch immer auf dem boden glänzt und zittert“.
Wiederholt wird ihm der städtische Raum zum Objekt der Beobachtung, vorneweg in den „kalifornischen sonetten“. „endlos die stadt, die staus: es ist ein glitzern / von ankerketten, die man langsam einzieht“, diese Wahrnehmung erfolgt noch aus der Ferne. Dann aber wird herangezoomt: „in hauseingängen und im tiefparterre / auf pappen hingestreckte veteranen; / mit licht und chrom gepanzerte transporter, die ganze milchstraßen aus den vitrinen // der juweliere schaffen…“Viereinhalb Verse, in denen sozialer Kontrast auf den Punkt gebracht ist.
„könntest du gefallen // an alldem finden?“heißt es in einem der kalifornischen Sonetten. Vermutlich nicht, würde man im Sinne des lyrischen Ichs antworten. Unbedingt!, muss man als Leser von Jan Wagners neuen Gedichten sagen.
» Jan Wagner: Die Live Butterfly Show. Hanser Berlin, 104 S., 18 ¤