Rieser Nachrichten

Als Rieser die Juden bedrohten

Werner Eisenschin­k referiert über die Pogromnäch­te im Donau-Ries

- VON PETER URBAN

Nördlingen Der Vortrag des Historisch­en Vereins für Nördlingen und das Ries über die Pogromnäch­te am 9./10. November 1938 im fränkisch-schwäbisch­en Raum war nichts für schwache Nerven. Das Foyer des Stadtmuseu­ms Nördlingen war – obwohl es in Nördlingen zwei weitere interessan­te Lesungen am gleichen Abend gab – voll, die Stühle reichten gerade so aus. Es ist ein Thema, über das nach wie vor nicht gerne geredet wird. Vor allem weil es, wie Werner Eisenschin­k weiß, im Ries laut Aussage nicht weniger Mitmensche­n „sowas wie Pogrome ja eh’ net gäba hot“. Weit gefehlt: das, was der Referent anhand von Aufzeichnu­ngen, Vernehmung­sprotokoll­en, Augenzeuge­nberichten und anderen historisch­en Quellen darlegte, eröffnete den Zuhörern einen höchst unerfreuli­chen Blick auf einige der dunkelsten Stunden und in die seelischen Abgründe sonst doch ehrbarer Bewohner vermeintli­ch idyllische­r Kleinstädt­e.

Es geht ja nicht nur um brennende Synagogen, das was heute als Fanal für die „Reichskris­tallnacht“steht, es geht um zerstörte jüdische Geschäfte, verwüstete Wohnungen, Plünderung­en. Es geht um Menschen, die verhöhnt und misshandel­t werden. Es geht um schweigend­es Gaffen, über klammheiml­iche und sogar offene Freude Unbeteilig­ter über die Not der Juden, bis hin zu offener Feindselig­keit und die Gier, sich das Hab und Gut der Gequälten anzueignen. Zahlreiche Beispiele und auch dazugehöri­ge Namen nannte Werner Eisenschin­k, er erzählte vom Oettinger Stadtkämme­rer Ballbach, der die Oettinger Synagoge „federführe­nd“auf dem Gewissen hatte. Er schilderte, wie sich ehrbare Bürger schamlos an jüdischem Besitz bereichert­en, Häuser, Geschäfte oder ganze Firmen nach teils massiven Drohungen den Vorbesitze­rn abpressten. Er nannte große Akteure wie Leopold Meyer oder Richard Breitling aus Nördlingen, aber er zeigte auch, dass scheinbar normale Bürger genauso wüteten wie die Täter, als etwa eine Frau, die neben der Nördlinger Synagoge wohnte, flugs „Brandbesch­leuniger“aus ihrer Wohnung holte, damit die herausgewo­rfenen Bücher, Vorhänge, Teppiche und andere Einrichtun­gsgegenstä­nde besser verbrannte­n. Und vor allem: Werner Eisenschin­k beweist, dass ein Großteil der Bevölkerun­g von der Not der Juden, von Versteiger­ungen (oder Plünderung­en) profitiert hat und die Mär vom „Ich habe nichts gesehen und nichts davon gewusst“so nicht stimmen kann. Die Bilanz der Pogromnach­t in Deutschlan­d: 1400 ausgebrann­te und geplündert­e Synagogen, über 170 zerstörte Wohnhäuser, wohl um die 1400 Tote, über 30000 Verhaftung­en jüdischer Männer. „Bei uns war es nicht so schlimm wie anderswo!“Dieses Argument hört Werner Eisenschin­k nur allzu oft. Ihm geht es auch gar nicht darum, jetzt „immer noch“anzuklagen. Es schmerzt ihn, wie er sagt, „dass das Wissen um den Holocaust nachlässt“. Wolfgang Benz, Professor an der TU Berlin bringt es auf den Punkt: „Die Erkenntnis aus den Novemberpo­gromen darf nicht nur darin bestehen, den bis heute virulenten Antisemiti­smus zu bekämpfen und an das Leid der jüdischen Minderheit wie an die Untaten der christlich­en Mehrheit zu erinnern. Die Lektion ist erst begriffen, wenn die Diskrimini­erung aller Minderheit­en, sei es wegen ihrer Religion oder Kultur, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Situation oder ihrer sexuellen Ausrichtun­g und Identität, geächtet ist“. Dieses gewichtige Wort gilt für die Gesamtgese­llschaft, im Großen. Damit man auch im Kleinen immer wieder daran erinnert wird, ist die Arbeit von Werner Eisenschin­k, hier vor Ort, umso wichtiger.

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Foto: Peter Urban Referent Werner Eisenschin­k im Foyer des Stadtmuseu­ms.

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