Wieviele Tage noch, bis der Frieden kommt ...?
Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Der junge Rieser Johann-Georg Angermeyer war in Frankreich stationiert. Der Briefwechsel mit seiner späteren Frau ist nahezu vollständig erhalten. Eine Geschichte von Euphorie, Sehnsucht und Heimweh
Landkreis Der Schustersohn JohannGeorg Angermeyer aus Untermagerbein verabschiedete sich im Frühjahr 1915 von seiner Familie und begab sich auf eine Reise. Sie führte ihn zunächst nach München, dann nach Köln und später in verschiedene Städte und Dörfer in Frankreich. Die letzte Postkarte, die er seiner Frau schickte, ist vom 20. November 1917. Auf der Bildseite stehen die Worte „Ewig denk ich Dein“. Angermeyer schrieb auf der Vorderseite:
Innigst geliebte Gattin. Will dir kurz ein Kärtchen senden und mitteilen, daß ich heute dein Paket durch meinen Kameraden erhalten habe wofür ich dir nochmals bestens danke. Liebe Frau, deinen Brief vom 12. habe ich leider noch nicht in Händen, wird auch keiner mehr kommen. Zum Schluß kann ich dir auch noch berichten, dass ich kommenden Sonntag auf Urlaub kommen werde. Alles andere mündlich. Nun grüßt dich nochmals herzlich nebst Kind dein dich liebender Gatte Georg.
Einen Ort hat Angermeyer nicht mehr auf die Karte geschrieben.
In einem Haus in Wörnitzostheim sitzen Manfred Luff und sein Vater Georg mehr als ein Jahrhundert später an einem Holztisch und blättern durch ein Postkartenalbum, in dem die Briefe zwischen Johann-Georg Angermeyer und seiner Frau Marie Christine chronologisch angeordnet sind. Auf einem dritten Stuhl steht das Bild von dem Mann. Er trägt darauf eine dunkle Uniform mit roten Rändern und zur Seite gescheitelte, dunkle Haare. Sein Schnauzer wirkt gepflegt. Er blickt den beiden Männern ins Gesicht, reden wird er aber nicht. Georg Luff ist 68 Jahre alt, sein ganzes Leben wurde er von Angermeyer begleitet – kennengelernt haben sich die beiden nie. Jenes Porträt hing eingerahmt in dem Zimmer seiner Großmutter Marie Christine, er schlief in dem Raum nebenan. Sie war es auch, die sämtliche Postkarten ihres ersten Ehemannes in einem Karton aufbewahrte. Nun erzählt Luff die Geschichte des Unbekannten.
Zu Beginn von Angermeyers Reise erhielt Marie Christine fast täglich eine Karte von ihm. Er schickte sie aus Mannheim, Köln und Maubeuge, einer französischen Stadt an der Grenze zu Belgien. „Es schien so, als hatte er immer und überall einen Briefkasten in der Nähe, wo er einen Schrieb hineinwarf und dann weiterging“, sagt Luff. In kurzen Sätzen zählte Angermeyer auf, wohin er als nächstes fahren wollte, woher er kam, und selten verlor er Worte über das Wetter. Als er in Guillemont ankam, musste der junge Mann wohl seine Schuhe reparieren. In einer Postkarte vom August 1915 schrieb er:
Die Schürze und die Stopfnadel erhalten. Passt ganz gut, nur die Bändel sind etwas zu lang.
Nichts deutete darauf hin, dass der junge Mann dem Tod ins Auge sah. Er verlor kein Wort darüber, dass in einem der französischen Orte 1914 mehr als 40 000 alliierte Soldaten zu Gefangenen gemacht wurden. In keinem Satz erwähnt er den Umgang mit Waffen, dass Artilleriegeschosse herumstanden oder was er erlebte. Georg Luff vermutet, dass Angermeyer damals nicht an vorderster Front gekämpft habe, sondern im Lager arbeitete, später sogar seinem Beruf als Schuster nachgehen konnte. „Die Propaganda tat wahrscheinlich ihr Übriges“, sagt Luff. So lesen sich die ersten Karten Angermeyers wie ein Abenteuer eines jungen Mannes, der aufbrach, um die große Welt zu sehen.
Dass die Soldaten den Ernst der Lage damals nicht erkannt haben, ähnlich wie Angermeyer, war laut Nördlingens Stadtarchivar Wilfried Sponsel ein weit verbreitetes Phänomen. Den Männern sei damals gesagt worden, dass sie kurz nach Paris zum Kaffee trinken fahren, dabei die Franzosen schlagen und in ein paar Wochen wieder zurück sind, sagt Sponsel. Solche Sprüche seien damals reihenweise auf Zugwaggons gestanden. Der Patriotismus spiegele sich in vielen Postkarten von Soldaten in den ersten Kriegsjahren wider. Nur in wenigen Fällen verdrängten die Männer ihre Erfahrungen, oder manchmal bekamen sie auch einfach nichts vom Krieg mit, da sie in Lagern abwarteten und sich um andere Arbeiten kümmerten, kochten oder eben Schuhe flickten.
Wilfried Sponsel hat sich insbesondere mit dem Schicksal der Nördlinger im Ersten Weltkrieg befasst. Ein Gegenentwurf zu JohannGeorg Angermeyer ist der Nördlinger Apotheker und Archäologe Ernst Frickhinger. Er wurde bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs eingezogen, damals war er 38 Jahre alt. Er schickte über den gesamten Krieg hinweg fast alle drei Tage einen Brief in die Heimat, aber von Ästhetik oder Aufbruchsstimmung keine Spur.
„Der Ritt durch die Schlachtfelder gestern war nicht schön. Überall Tote und Verwundete, Waffen, Kleidungsstücke, französische Fahrzeuge, ja ganze französische Batterien mit Munitionswagen …“
schrieb er im August 1914. Ein Jahr später bezeichnete er den Krieg an der Westfront in Frankreich bereits als
Solche klaren Stellungnahmen zum Ersten Weltkrieg sucht Luff in den ersten Briefen Angermeyers vergeblich. Er glaubt, dass die Postkarten von Vorgesetzten gelesen wurden, weshalb Soldaten ihren Gedanken keinen freien Lauf ließen. Doch mit der Zeit wurden die Schriebe von Angermeyer an seine Geliebte seltener. Er meldete sich meist nur noch einmal im Monat bei ihr und von „schönen Reisen“berichtete er laut Luff gar nicht mehr. Fortan waren die Briefe des jungen Angermeyer von einer Sehnsucht
„Hölle“.
nach Hause geprägt. Immer wieder kündigte er seinen nächsten Heimaturlaub an und berichtete von dem letzten Aufenthaltsort seines Bruders.
Vielleicht Urlaub bis Anfang April. Karte von dem Bruder Fritz aus Russland erhalten. Dort ist es kalt, und es liegt noch sehr viel Schnee.
„Die beiden Männer mussten sich wohl auch untereinander ausgetauscht haben“, sagt Luff. Dann kramt der 68-Jährige aus dem Album auf dem Holztisch eine Karte vom 21. Juli 1916 heraus.
Paket erhalten, Eier wieder alle kaputt, Fleisch ist vermadet, kann froh sein, daß es durchgekommen ist. 16 Tage auch schon vorüber. Wieviel Tage müssen noch vergehen, bis der Friede kommt.
Die Euphorie des jungen Mannes schwand zwei Jahre vor dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Die Soldaten hofften langsam darauf, dass der Krieg vorbei geht, sagt Stadtarchivar Wilfried Sponsel. Sie seien mit der Zeit kriegsmüde geworden, denn das Versprechen, zu Beginn konnte nicht eingehalten werden. „Sieht man das im Ganzen, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Matrosen in Kiel sich irgendwann weigerten, Befehle auszuführen“, sagt Sponsel. War zunächst von wenigen Wochen die Rede, befanden sich die Männer über Jahre im Krieg – und der wurde immer aussichtsloser.
Schickte Marie Christine ihrem Mann in den ersten Jahren noch Pakete mit Fleisch und geflickten Socken oder einer Schürze, freute sich Angermeyer Ende 1916 über Äpfel, die noch angekommen sind.
Paket mit Äpfeln erhalten. Hätte nicht gedacht, daß es nochmals soweit kommt, daß du mir Äpfel ins Feld senden kannst. Und wer weiß wie lange noch.
Angermeyer sollte zunächst Recht behalten. Mehr als ein halbes Jahr schickte er keine Briefe mehr. „Ich bin mir nicht sicher, ob das alle sind, die wir haben. Es macht aber den Anschein“, sagt Georg Luff. Und zeigt auf ein Postkartenbild mit einem Soldaten und einer Frau. „Er adressierte die Briefe immer an Fräulein Marie Christine Steinle, dann nannte er sie Frau Angermeyer“, sagt Luff. Die beiden hatten sogar einen gemeinsamen Sohn. Nur ein halbes Jahr später erhielt Marie Christine den letzten Brief ihres Mannes. „Ewig denk ich Dein“. In der Ausgabe des
vom 22. August 1918 steht die Todesanzeige von JohannGeorg Angermeyer.
Anzeigeblatts Vom tiefsten Schmerze ergriffen, teile ich lieben Verwandten, Freunden und Bekannten die traurige Nachricht mit, dass nach dreieinhalb jähriger treuester Pflichterfüllung mein heissgeliebter, herzensguter, treubesorgter Gatte Herr Johann Georg Angermeyer im 29. Lebensjahre durch eine Fliegerbombe am 31. Juli den Heldentod fürs Vaterland gestorben ist.
Die Anzeige ist im Namen von Marie Christine Angermeyer geschrieben. Der junge Soldat aus Untermagerbein starb in Douai, im Norden Frankreichs.
Der Nördlinger Ernst Frickhinger hatte mehr Glück. Er kam mit der spanischen Grippe, die in den Nachkriegsjahren laut Sponsel mehr als 250000 Menschen das Leben kostete, ins Lazarett nach Hannover. Er schrieb in seinem letzten Brief vom 16. November 1918:
Er überlebte. Als der Brief von Frickhinger im Nördlingen ankam, war der Krieg bereits vorbei. Im
vom 11. November 1918
sehne mich riesig heim.
steht:
Nördlinger Ich Nördlinger Anzeigeblatt Unter Sturmgebraus ist, fast urplötzlich ein Geist ins Land gezogen; es ist der Geist der Freiheit. Den meisten der Volksgenossen mag die tiefgreifende Umwälzung in unserem Staatskörper etwas unvermittelt und überraschend gekommen sein.
Der Friede, nach dem sich Angermeyer zum Ende des Krieges so sehr sehnte, war nur wenige Monate später Realität. In Nördlingen trafen sich die Bürger auf der Kaiserwiese und tauschten sich über das Ereignis aus. Politiker hielten Reden und ermahnten die Bürger, mit den neuen Begebenheiten zurechtzukommen und den Frieden zu wahren.
In Nördlingen kümmerte man sich sogar um Wohnungen für die Kriegsheimkehrer, sagt Wilfried Sponsel. Viele Menschen feierten das Kriegsende. In Lehmingen gründeten Heimkehrer beispielsweise den Krieger- und Veteranenverein, aus dem die Blaskapelle entstand.
Marie Christine Angermeyer stand mit ihrem Sohn, Johann-Georg Angermeyer, aber alleine da und fürchtete um ihre Existenz. Sie heiratete drei Jahre später einen Schäfer, Georg Luffs Großvater. Ihr Sohn starb im Zweiten Weltkrieg. Das habe sie laut Luff nie verkraftet.