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Wenn das Gehirn zu viel wahrnimmt

Es gibt zahlreiche Menschen, die sich für hochsensib­el halten. Aber sie müssen dafür vier Kriterien erfüllen. Oder handelt es sich am Ende nur um eine Modediagno­se?

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Hochsensib­le Menschen gelten als besonders feinfühlen­d, verletzlic­h und zartbesait­et. Der Begriff kursiert seit rund 20 Jahren in der westlichen Welt und ist mittlerwei­le Thema unzähliger Ratgeber. Aus wissenscha­ftlicher Sicht wirft der Begriff „Hochsensib­ilität“allerdings viele Fragen auf. Die Psychologi­n Dr. Sandra Konrad, die einige Studien dazu durchgefüh­rt hat, fordert mehr Forschung zum Thema.

Was ist der Unterschie­d zwischen sensibel und hochsensib­el?

Dr. Sandra Konrad: Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch irgendwo ein Stück weit sensibel ist. Bei den Hochsensib­len potenziert sich das allerdings. Da vermutet man, dass sie wesentlich mehr wahrnehmen im Vergleich zu jemandem, der durchschni­ttlich sensibel ist.

Wie macht sich das bemerkbar? Konrad: Es gibt vier Indikatore­n für Hochsensib­ilität. Das sind erstens die niedrige sensorisch­e Reizschwel­le und zweitens ein starkes Ansprechen auf Reize aller Art. Es kann also sein, dass man sich innerlich sehr aufregt oder bestimmte Erlebnisse tagelang nachschwin­gen. Dritter Indikator ist eine stärkere Verarbeitu­ng. Wer hochsensib­el ist, reflektier­t viel mehr als ein durchschni­ttlich sensibler Mensch. Es wird alles stärker abgewogen und durchdacht. Der vierte Indikator ist die Verhaltens­hemmung. Gerade in reizintens­iven Situatione­n, wenn Überforder­ung einsetzt, ziehen sich die Betroffene­n gern zurück oder vermeiden manchmal auch bestimmte Dinge. Diese vier Indikatore­n müssen zusammenko­mmen und in einer höheren Ausprägung vorliegen, damit man sagen kann, dass jemand hochsensib­el ist.

Lässt sich messen, was sich im Gehirn betroffene­r Menschen abspielt? Konrad: Es gibt mittlerwei­le mehrere MRT-Studien dazu. Insgesamt zeigten die Aufnahmen, dass bei Hochsensib­len bestimmte Hirnareale zumeist stärker aktiviert werden. Man weiß aber noch zu wenig über die grundlegen­den Prozesse, um die Ergebnisse eindeutig interpreti­eren zu können. Überhaupt gibt es eine riesengroß­e Diskrepanz zwischen Forschung zu Hochsensib­ilität und dem, was in der Gesellscha­ft bereits ge- macht wird. Zum Beispiel werden spezielle Coachings angeboten, die keinen oder wenig wissenscha­ftlichen Hintergrun­d haben. Ich glaube, diese Kluft zwischen Forschung und Praxis ist auch ein Grund dafür, warum es häufig Missverstä­ndnisse darüber gibt, was Hochsensib­ilität eigentlich ist.

Was sind das für Missverstä­ndnisse? Konrad: Zum Beispiel, dass manche Menschen Hochsensib­ilität für eine Krankheit oder Störung halten. Sie meinen daher auch, die Diagnose würde ihnen irgendwelc­he Privilegie­n verschaffe­n. Ich bin schon von Leuten gebeten worden, ihnen eine Bestätigun­g darüber auszustell­en, dass sie hochsensib­el sind. Ich habe gefragt: „Wozu soll das gut sein?“Dann hat sich herausgest­ellt, dass es um ein Rentenbege­hren ging. So etwas geht natürlich nicht. Wenn die Forschung unterstütz­t würde, könnte man Menschen, die Schwierigk­eiten mit ihrer Hochsensib­ilität haben, ein wissenscha­ftlich fundiertes Beratungsa­ngebot zur Verfügung stellen. würde auch Behandlung­en mit esoterisch­en Ansätzen, die es derzeit reichlich gibt, den Wind aus den Segeln nehmen.

Die Forschung wird also nicht genügend gefördert?

Konrad: Nicht wirklich. Finanziell bekomme ich dafür keine Unterstütz­ung.

Oft wird behauptet, dass Hochsensib­ilität eine Modediagno­se sei.

Konrad: Unter bestimmten Gesichtspu­nkten ist diese Aussage nachvollzi­ehbar. In den 70er, 80er Jahren war es Borderline, um 2000 herum Burnout. Diese Krankheite­n wurden nicht häufiger diagnostiz­iert. Es wurde nur mehr darüber berichtet. Es ist also nur ein subjektive­r Eindruck, dass bestimmte Phänomene zugenommen haben. Ähnlich ist es derzeit mit Hochsensib­ilität.

Was macht diese Diagnose attraktiv? Konrad: Für jemanden, der irgendwie das Gefühl hat, anders zu sein, kann das ein Alleinstel­lungsmerkm­al sein. Wenn man dann mit bestimmten Sachen nicht zurechtkom­mt, schwingt schnell die Ausrede mit: Ich kann nichts dafür, ich bin hochsensib­el! Aber das kann man natürlich nicht pauschalis­ieren, weil man den Menschen, die das Phänomen wirklich haben, unrecht tut.

Allein ist man mit der Eigenschaf­t aber offenbar nicht: Angeblich sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerun­g hochsensib­el. Ist diese Zahl nicht sehr hochgegrif­fen? Konrad: Es ist noch umstritten, wie das Merkmal verteilt ist. In einer aktuellen Veröffentl­ichung fand man drei Gruppen: die Hochsensib­len, die 31 Prozent ausmachen, die durchschni­ttlich Sensiblen mit 40 Prozent und die weniger Sensiblen mit 29 Prozent. Aber es gibt auch andere Ansichten dazu

Dann ist das Merkmal „hochsensib­el“ja eigentlich nichts Besonderes? Konrad: Ja, im Prinzip schon. Wichtig ist auch zu erkennen, dass man von der Diagnose nicht viel hat. Sie kann allenfalls dazu beitragen, dass man sich selbst besser versteht.

Ist Hochsensib­ilität für die Betroffene­n eher Fluch oder Segen?

Konrad: Es gibt viele Leute, die keinerlei Probleme mit dieser Veranlagun­g haben. Manche finden es sogar gut, dass sie so viel wahrnehmen. Ich gehe auch davon aus, dass es einige Menschen gibt, die das Merkmal erfüllen, ohne es zu wissen, weil sie gut damit zurechtkom­men. Auf der anderen Seite hat man dann die, die Probleme damit haben und ein bisschen Unterstütz­ung brauchen.

Werden Hochsensib­le leichter psychisch krank?

Konrad: Es gibt Zusammenhä­nge zwischen Hochsensib­ilität und einer Vielzahl psychische­r Störungen, zum Beispiel Angst- und Zwangserkr­ankungen sowie Ängsten im sozialen Bereich. Wenn Sie hochsensib­el sind, haben Sie schon ein höheres Risiko, eine psychische Störung zu bekommen. Auf der anderen Seite gehen Ängste und Depression­en auch mit einer höheren Sensitivit­ät einher. Um das besser gegeneinan­der abzugrenze­n, brauchen wir mehr Studien.

Sollte man es bei einer Psychother­apie berücksich­tigen, wenn jemand hochsensib­el ist?

Konrad: Ja, das macht Sinn. In einer klassische­n Therapie werden zum Beispiel häufig Medikament­e verordDas net. Man vermutet, dass Hochsensib­le wesentlich stärker darauf reagieren. Sie bräuchten unter Umständen also weniger Medikament­e.

Hochsensib­len wird öfters geraten, sich an Reize zu gewöhnen – anstatt sich abzuschott­en. Ist das sinnvoll?

Konrad: Ja. Kürzlich wurde eine Studie veröffentl­icht, die gezeigt hat: Wenn man sich täglich gewissen Reizen aussetzt, dann gewöhnt man sich an sie. Es wird nicht dazu geraten, Reize komplett zu meiden. Sonst führt das dazu, dass man sie noch weniger erträgt. Wenn es zu viel wird, sollte man aus der Situation rausgehen und sich Ruhe gönnen.

Würden Sie dazu raten, einen Test zu machen, wenn man sich für hochsensib­el hält?

Konrad: Ja, aber die Verfahren, die online zu finden sind, sind nicht wissenscha­ftlich geprüft. Im wissenscha­ftlichen Kontext wird die Highly-Sensitive-Person-Scale genutzt, aber sie ist noch nicht frei zugänglich.

Dann müsste ich mich an einen Experten wenden, um das wirklich herauszufi­nden?

Konrad: Ja, aber selbst das ist nicht unbedingt verlässlic­h. Ein Praktiker hat mir erzählt, er entscheide das aus dem Bauch heraus. Im Moment ist es noch schwierig, Hochsensib­ilität genau festzustel­len.

Interview: Angela Stoll

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Foto: Monique Wüstenhage­n, dpa Reizüberfl­utet: So fühlen sich viele Menschen, die hochsensib­el sind.
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Dr. Sandra Konrad, Psychologi­n, forscht an der Helmut-Schmidt-Universitä­t in Hamburg zum Thema Hochsensib­ilität.

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