Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (22)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Nach seiner Behauptung unter der Akazie, präzis drei Meter von Elli entfernt. Der Telegraphenbote Kleinmichel, der gleich nach der Detonation den Garten betreten hat, was hat der angegeben? An der Hausecke sei er gestanden. Vor ihm, nicht hinter ihm. Vor ihm, ich ersuche, ist er gestanden, also muß er vor ihm schon dagewesen sein. Aber das Gericht war der Ansicht, Kleinmichel hat sich getäuscht, Kleinmichel muß sich getäuscht haben, sonst stimmt eben die ganze Geschichte nicht, sonst geht die Schlinge nicht zu. Oder Waremme hat einen Meineid geschworen. Und was hat denn Waremme im Garten zu tun gehabt? Um sechs Uhr fünfunddreißig soll er noch im Kasino gesehen worden sein. Verschiedene Personen, einwandfreie Personen haben es übereinstimmend ausgesagt. Vom Kasino bis zur Gartenpforte sind es bis auf den Zoll zwölfhundertdreiundvierzig Meter. Sie werden zugeben, junger Herr, daß man schon die Beine über die Achsel
nehmen muß, wenn man zwölfhundertdreiundvierzig Meter in zehn Minuten zurücklegen will. Und womit nun hat Herr Waremme das erklärt? Damit, daß ihm Anna Jahn telephoniert hat, er solle sofort kommen, es sei ihr so unheimlich, es trieben sich verdächtige Gestalten ums Haus herum. Verdächtige Gestalten, eine Viertelstunde vor einem Mord, großartig, was? Das nenn ich Geisterseherei, was? Darauf rennt Herr Waremme, als hockt ihm der Satan im Genick, weil doch in der ganzen Stadt kein Wagen aufzutreiben ist, hehe. Niemand freilich hat ihn laufen sehen, in der belebten Allee, wo Laterne neben Laterne brennt, bei schönem Wetter. Das bißchen Nebel hätte keinen gehindert, so ’nen Riesenkerl wie einen Bock daherspringen zu sehen. Haben Sie schon mal eine solche Kollektion von Widersprüchen beieinander gesehen? Na, und der Herr Untersuchungsrichter! Den hat kein Zweifel geplagt, Gott bewahre. Unentwegt aufs Ziel los. Das Ziel, das kannte er schon, den Weg mußte er sich erst schaffen. Ging wie geschmiert. Motive wie Sand im Meer. Indizien zum Schweinefüttern. Alles stimmt herrlich, das Gewebsel hat nicht das winzigste Loch. Unbedeutender Umstand, daß der angebliche Mörder das Verbrechen in Abrede stellt. Es braucht sie gewiß nicht zu genieren, die sicheren Leute. Aber vielleicht… ich meine… ich formuliere: mit dieser Engelsruhe steht man doch nicht da vom ersten bis zum letzten Moment, o Publikum und hohes Gericht, mit dieser Engelsbeharrlichkeit wiederholt man doch nicht zweitausendmal: ich hab es nicht getan! Dem Richter, dem Anwalt, dem Vater, den Freunden, den Geschworenen und zuletzt und aus dem Zuchthaus wieder und wieder: ich hab es nicht getan! Er hätte, das geb ich zu, nicht fliehen sollen. Kolossale Dummheit. Davonlaufen wie ein Schulbub. Zwei Tage drüben in Frankfurt sich bei einem Mädel verstecken, nach Kassel fahren, nach Hamburg fahren, den Schnurrbart rasieren lassen, freilich schon vorher, das mit dem Schnurrbart war freilich schon vorher, unter falschem Namen in Gasthöfen logieren. Hat den Kopf verloren gehabt, der Junge, konnte nicht mehr Weiß von Schwarz unterscheiden. Als sie ihn da oben verhafteten und es hieß: unter dringendem Verdacht des Mordes, da stand er da wie vom Donner geschlagen. Da fragt er: Wie, meine Herren, ich? Beachten Sie, junger Herr: ich? ruft er aus. Ich? Wie einer, der vom Schlaf aufwacht. Weiß nichts vom Steckbrief und wovon die Zeitungen voll sind. Das haben sie ihm dann als abgefeimte Komödianterei angekreidet, gerade das.
Hat einer ein reines Gewissen, so stellt er sich selber und strolcht nicht eine Woche lang in der Welt herum, nicht wahr? Schema F, klar wie Tinte. Lauter Herrgötter. Das Gras hören sie wachsen …“
Er hielt keuchend inne. Ein gräßlicher Hustenanfall hinderte ihn am Weitersprechen. Etzel stand auf, schraubte an der rauchenden Lampe, und als das wüste Hustengekrächze verebbte, sagte er, zu seinen Fingern hinunter: „Da müßten doch zwei Revolver dagewesen sein …“
Maurizius starrte ihn offenen Mundes an. „Wieso denn?“stotterte er. Verwundert über die Verwunderung erklärte Etzel: „Die Frau ist in den Rücken geschossen worden. Sie ist auf ihn zugegangen, er ist auf sie zugegangen, heißt es. Er hat einen Revolver in der Hand gehabt. Wer hat also den andern Revolver gehabt?“
Der Alte schloß langsam den Mund wie ein Nußknacker und fing an, seine Lippen zu schlucken. Nach einer Weile murmelte er mit einem düstern Schmunzeln: „Sehr richtig. Aber davon war nicht die Rede. Offiziell ist es nie angenommen worden. Die Annahme war, daß sie erst auf ihn zu-, dann von ihm weggelaufen ist. Eine Theorie, nicht wahr? Sie wissen doch, was eine Theorie ist? Wenn jemand eine Theorie hat, bringen ihn keine zehn Gäule mehr davon ab. Was schiert ihn da die Wirklichkeit!
Die Theorie hieß: als sie ihn mit dem Revolver in der Hand erblickte, ist sie voll Schrecken umgekehrt und gegen das Haus zugelaufen. Ganz plausibel. Zwei Revolver? Nein. Die Geschichte ist sogar die, daß nicht einmal der eine gefunden worden ist. Waremme will ihm, nachdem der Schuß abgefeuert war, die Waffe aus der Hand gewunden und fortgeworfen haben. Ins Gebüsch geschleudert. Drei Kriminalbeamte haben zwei Tage lang danach gesucht, den Garten, die Umgebung abgesucht. Nichts. Der Revolver blieb verschwunden. Ist nie mehr zum Vorschein gekommen. Was sagen Sie dazu; Unerklärlich, was! Fein, wie unerklärlich das alles ist.“Er kicherte einfältig.
Etzel schaute nachdenklich vor sich hin. Plötzlich hob er den Kopf und fragte: „Wer könnte denn … wer war also nach Ihrer Meinung …
„Pst!“unterbrach ihn der Alte mit scharfem Zischlaut. Er trat dicht vor den Knaben hin, schielte teuflisch und sagte mit der mürrischen Strenge eines Dorfschulmeisters: „Nicht so naseweis. Kein Ton. Wo kämen wir hin, Donnerwetter. Hat doch er selber, verstehen Sie, mein Leonhart selber, auf die Frage nie geantwortet. Nie. Keinen Ton. Kein Sterbenswort. Hat es verweigert. Sie verstehen, junger Herr. Was könnt es also uns beiden nützen, danach zu fragen? Was könnt es uns sogar nützen, es zu wissen? Waremmes Eid steht dagegen. Waremmes Eid nimmt alles auf sich. Eine feste Burg, so ein Eid. Sehn Sie mal, da war die Anna Jahn, die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn. Na ja, was glotzen Sie denn so komisch?“(In der Tat schaute Etzel betroffen empor, da der Alte die drei Beiwörter mit wütendem Hohn herauskeifte.) „So hat man’s damals überall gelesen: die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn.
Gleich nach jenem Abend wurde sie schwerkrank. Sechs Wochen ist sie am Tod gelegen. So hat es geheißen. Mußte geschont werden. Keine Aufregung, um Gottes willen. Nach den sechs Wochen hat man sie in den Süden geschafft. In Nizza, oder weiß der Teufel wo, sind ihre Aussagen protokolliert worden. Erst zur Hauptverhandlung ist sie wieder erschienen. »23. Fortsetzung folgt